Theater einBLICK

29.11.2022

Catchy Title

Katja Hagedorn hat für den hauseigenen Kritikerclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Cabaret« besucht.
Cabaret
Zum Stück

Aureliusz Śmigiels »Cabaret«-Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen greift visuelle Elemente bekannter Broadway-Inszenierungen auf und interpretiert das Stück dennoch neu. So erinnern Kostüme und Performance der Kit Kat-Boys (Michael Tucker, Germán Farías, Wendel Lima und Paweł Malicki) an Alan Cummings legendäre Interpretation des Emcee. Die hiesige Version des Conférenciers (Bastian Dulisch) hat man in dieser Art allerdings noch nicht gesehen: Als Zirkusdirektor tritt er mit Frack und Zylinder auf (Kostüme: Laura Yoro), Haare und (Augen) Make-up erinnern jedoch an den amerikanischen Singer/Songwriter und Filmemacher Rob Zombie, bekannt für Horror-Kultfilme wie »Haus der 1000 Leichen«. Dies ist in Bezug auf den vorliegenden Stoff — der nahenden Machtübernahme der Nationalsozialist*innen, dem folgenden Hass und den Verbrechen sowie dem daraus resultierenden Leid — besonders aufschlussreich. Der Emcee lauert als Verkörperung dessen kontinuierlich im Hintergrund und beobachtet. Jedoch beeinflusst er auch die Handlung, beispielsweise als er Hitlers »Mein Kampf« in das Leben der Figuren oder Glas auf die Bühne wirft, als Vorausdeutung auf kommende anti-jüdische Pogrome. Dulisch hält das Misstrauen kontinuierlich aufrecht, welches er in der Zuschauerin gleich zu Beginn weckt. Niemand fühlt sich wirklich willkommen (very uncanny valley) — obwohl natürlich der gleichnamige Song die Show eröffnet. Die Kit Kat-Girls (Nathalie Thiede und Katharina Trabert) runden das Setting im Nachtklub ab und bilden ein Gegengewicht zu den Tänzern, die ebenfalls fast durchgehend auf der Bühne sind und beeindruckend performen (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà).
Die Zirkusästhetik findet sich auch im Bühnenbild (Bühne: Jósef Halldórsson) wieder: Ein Gerüst mit Sprungtuch (auch als Bett genutzt) bildet den Mittelpunkt des Geschehens, eine nicht geringe Anzahl Glühbirnen rahmen das Ganze. Mehr Glamour ist in »Money, Money« zu sehen, welcher in dieser Inszenierung als Love-/Thirstsong zwischen Conférencier und Nachtklubsängerin Sally Bowles (Gaia Vogel) funktioniert.
Sally führt zur gleichen Zeit eine Beziehung mit dem eigentlichen ›Protagonisten‹ der Geschichte: Cliff Bradshaw (Paul Trempnau). Dieser ist Schriftsteller und nach einigen gescheiterten Versuchen in anderen Städten nach Berlin gekommen, um einen Roman zu schreiben. Dort zieht er in die Pension von Fräulein Schneider (Gaby Dey), wo er sich in die Sängerin verliebt. Sally hingegen geht es um niemanden als um sich selbst: Beziehungen führt sie, um zu überleben und ihre Karriere voranzutreiben. Das ist keineswegs negativ zu verstehen, denn weiblich gelesene Figuren werden nicht oft genug so kompromisslos handelnd gezeigt. Während der Text Sally dafür verurteilt, stellt Gaia Vogel sie als realistischen Menschen dar. Sally ist diejenige, die sich für einen Abbruch entscheidet, als sie eine Schwangerschaft feststellt. Sie ist diejenige, die Cliff in seine Schranken weist, als er sie dafür — und für vorherige Abbrüche — verurteilt. Sein darauf folgender Gewaltausbruch bestätigt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Die Setzung von »Mein Herr« als Breakupsong an dieser Stelle ist on point. In anderen Versionen des Musicals funktioniert er neben »Don’t Tell Mama« als Introductionsong für Sally — aber auch hier und an dieser Stelle stellt er Sally vor, er zeigt ihren Charakter und Wünsche: Sie entscheidet sich für das Bühnenleben, gegen Ehe und Mutterschaft. Und da sie daran glaubt, dass es einiger gebrochener Herzen bedarf, um eine großartige Schauspielerin zu werden, passt das Ende der Beziehung gut in ihren Lifestyle. Gaia Vogels Interpretationen von »Maybe This Time« und »Cabaret« are killing it. Die Band (Musikalische Leitung: Michael Frei) performt wie man es bei einem Musical erwartet und von den Musikproduktionen des Deutschen Theater gewohnt ist.
Paul Trempnau holt aus der Rolle des Schriftstellers heraus, was sie hergibt, er ist jung und naiv, zunächst auch sweet. Der Charakter an sich ist allerdings fragwürdig, obwohl er die heraufziehende Gefahr der Nazis sehr deutlich erkennt, benennt und Konsequenzen zieht: Er hat keine agency und dennoch erfolgt die Erzählung aus seiner Perspektive — eine Schwäche des Stücks (Musicals), nicht der Inszenierung. Deutlich wird das vor allem daran, dass er keinen einzigen Song hat.
Die interessanten Figuren sind ohnehin die weiblichen: Sally, Fräulein Schneider und Fräulein Kost (Jenny Weichert) — sie alle tun, was sie tun müssen, um im Rahmen ihrer durch das Patriarchat und klassistische Strukturen begrenzten Möglichkeiten zu überleben. Sally kann die Politik ignorieren, denn diese hat zunächst keine Konsequenzen für ihre Karriere. Fräulein Schneider wiederum kann sich das nicht leisten: Sie muss sich um ihres finanziellen Überlebens willen mit der Politik arrangieren. Fräulein Kost dagegen profitiert von einer Zusammenarbeit mit den Nazis — verkörpert durch die Figur des Ernst Ludwig (Moritz Schulze) —, was ihr auch den sozialen Aufstieg ermöglicht.
Anhand dieser drei Figurenentwürfe kann der Punkt des Musicals zusammengefasst werden, zum einen: »Money makes the world go round«. Und zum anderen: Man muss sich mit Politik auseinandersetzen, denn sie wird eine*n zwangsläufig betreffen, möglicherweise mit furchtbaren Konsequenzen. Wahr ist und war schon immer: Das Private ist politisch. Man wünscht sich, dass die Beziehung zwischen Fräulein Schneider und einem ihrer Pensionsbewohner*innen, Herrn Schultz (Ronny Thalmeyer), funktioniert hätte und die Ananas als Glückssymbol foreshadowing gewesen wäre, kein leeres Versprechen. Dey und Thalmeyer geben ein glaubwürdiges Paar, denen man alles Glück der Welt und eine gute Zukunft wünscht. 27.11.2022