Theater einBLICK

29.12.2022

Die Hölle, das sind Unsere

Jan Wernicke hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Zerstörte Straßen« besucht.
Zerstörte Straßen
Zum Stück

Krieg ist immer die Hölle, so weit, so klischeehaft – was das tatsächlich bedeutet, ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu verstehen. Krieg ist eben nicht nur der Moment des Kampfes an sich, sondern erfasst jeden Aspekt des täglichen Lebens, den er berührt. Krieg ist Entgrenzung, Chaos, Zusammenbruch. Die oberste der zivilisatorischen Errungenschaften, das staatlich und gesellschaftlich durchgesetzte Verbot des Tötens anderer Menschen, wird mit dem Segen genau dieser Institutionen aufgehoben. Das Töten wird nicht nur enttabuisiert, sondern auch legitimiert. Die zersetzende Wirkung dieses Ausnahmezustands strahlt aus in die Umgebung des Krieges, in das Terrain selbst und schafft einen Raum, in dem zwar Gesellschaft nach wie vor existiert, aber in einer neuen, schwer wiederzuerkennenden, aufs Äußerste und Einfachste zugespitzten Form. In diesen Mahlstrom geraten Individuen, Menschen mit Träumen, Wünschen, Ängsten, Prinzipien, physischen und psychischen Wunden und dem nackten Willen zu überleben. Persönlichkeiten formen und verformen sich unter dem Druck der Extremsituation zu Überlebenden, die ihre eigene kleine Nische im Chaos bewohnen. Manche verhärten sich, manche zerbrechen, manche richten sich ein oder schaffen Normalität, aber niemand bleibt unberührt.
Das ist die Geschichte, die »Zerstörte Straßen« in sechs mehr oder weniger verbundenen Vignetten aus dem Ukrainekonflikt erzählt. Das Thema, das sich dabei durch alle Geschichten gleichermaßen zieht, ist die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Es sind Soldaten – tötende Männer – die das Einfallstor für »den Krieg« in das Leben der Zivilbevölkerung bilden. Sie sind es, die als Infizierte alles um sich herum mit Krieg anstecken, obwohl während des gesamten Stückes auf der Bühne kein einziger Schuss fällt, keine Granate einschlägt. Die Frauen und Mädchen »unsere Kinder« des Stückes erfahren Krieg als Kontakt mit Männern, deren Opfer sie oft werden. Gewalt von Männern gegen Frauen, oft in sexualisierter Form, ist allgegenwärtig. Selbst wo das nicht der Fall ist, sind die Soldaten gebrochene Individuen, die jede Person, die mit ihnen in Kontakt kommt, unweigerlich ebenfalls beschädigen. Bezeichnend ist dabei, dass sich die gesamte Handlung auf der ukrainischen Seite des Konfliktes abspielt. Es sind »unsere Männer«, die den Schrecken in die Leben der Zivilisten hineintragen, nicht »der Feind«.
Vorlage und Ensemble tragen diesen Schrecken mit einer Intensität weiter auf die Bühne und in den Zuschauerraum, die jegliche Romantisierung oder voyeuristische Betrachtung des Krieges mit Verachtung straft. Eine in Anbetracht des den Ukrainekonflikt umgebenden, fast enthusiastischen gesellschaftlichen Klimas in Deutschland sehr wichtige, mutige und damit meiner Meinung nach die beste Inszenierung dieses Jahr. 28.12.2022