Theater einBLICK

27.10.2022

So spannend kann unaufgeregt sein: »Tell«

Ingrid Rosine Floerke hat für den hauseigenen Kritikerclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Tell« besucht.
Tell – Die Geschichte vom Apfelschuss neu erzählt
Zum Stück

Der Beginn der neuen Spielzeit des Deutschen Theater Göttingen beginnt mit einer Inszenierung, die quasi auf Samtpfoten daherkommt. Eine ruhige, entspannte Atmosphäre empfängt das Publikum; was durch das reduzierte Bühnenbild, mit in graublau gehaltener Farbpalette den Gesamteindruck unterstrichen wird. Die schemenhaft anmutenden Berge versetzen uns auch gleich in die Schweiz, wo die Legende um Wilhelm Tell ganz neu beleuchtet wird (Bühne und Kostüme Thomas Rump).
Florian Eppinger hat sich dem Roman von Joachim B. Schmidt angenommen und eine wunderbare Fassung daraus erarbeitet, die uns in 110 Minuten immer weiter in die Lebenswelt des Wilhelm Tell eintauchen lässt. Wir lernen sein familiäres Umfeld kennen, die Habsburgische unterdrückende Herrschaft und mit der Kunst von nicht nur vieler verschiedener Erzählperspektiven, sondern auch mit berührenden Retrospektiven tut sich eine Welt auf, die uns immer gespannter lauschen lässt. Dabei gelingt es der Besetzung von nur vier Schauspieler*innen (Lukas Beeler, Florian Eppinger, Marco Matthes und Judith Strößenreuter) die vielen verschiedenen Rollen einzunehmen und klar zu skizzieren. Das macht dieses Stück zu einem ganz besonderen, intensiven Erlebnis.
Die Entscheidung diese Inszenierung als szenische Lesung umzusetzen ist ganz ohne Zweifel eine richtige gewesen. So können wir uns ohne viel Ablenkung auf die einzelnen Personen konzentrieren, die ihren Einfluss auf die Entwicklung des Wilhelm Tells hatten und ihn zu dem haben werden lassen, der er wurde. Nicht von Anbeginn sind wir und nicht von alleine werden wir so wie wir sind. Und so wird auch unser Handeln rückblickend und um sich blickend vielleicht verständlicher. Mehr als nur ein Aha-Erlebnis darf das Publikum nach so einem Abend mit nach Hause nehmen.

Ingrid Rosine Floerke