LIEBES PUBLIKUM,
die großen Internet- und Kommunikationskonzerne Google, Amazon, Facebook, Apple etc. propagieren seit Anbeginn, aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Großkonzerne verfügen freimütig über unsere Utopien und beschränken sie auf Technologien der Zukunft. Wissenschaftler, die sich mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzen, fragen sich jedoch, ob die zunehmende Digitalisierung die Ungleichheit auf der Welt und zwischen den Menschen nicht maßgeblich vergrößern wird. Microtargeting beispielsweise, als eine Form der künstlichen Intelligenz, die uns im Alltag beeinflusst, birgt die Gefahr, den Wähler*innen und Konsument*innen Inhalte und Produkte zu verkaufen, für die sie sich sonst nicht entscheiden würden. Aber auch die Entwicklung autonomer Waffensysteme und Fake News sind im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz Gefahrenpotenziale, die heute in ihrer Tragweite noch nicht einzuschätzen sind. Doch die Vermutung, dass diese neuen Technologien die Welt nicht zu einem besseren Ort machen, sondern vielmehr die Macht und den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentrieren werden, ist naheliegend. Überwachung und Verhaltensvorhersage, die sich zersetzende Privatheit, aber auch der Konsumismus im Netz und die daraus resultierende Ökonomisierung von sozialen Beziehungen, ganz zu schweigen vom immensen Energieaufwand und der Strahlenbelastung, die beispielsweise mit dem nicht bestellten 5G frei ins Haus geliefert wird, all das scheinen Zugeständnisse zu sein – Kollateralschäden, die moderne Kommunikationsmöglichkeiten mit sich bringen.
Es lässt sich nicht erkennen, inwiefern die Verhältnisse zwischen Menschen mit zunehmender Digitalisierung tatsächlich besser werden, obwohl es keinen gesellschaftlichen Bereich gibt, der unangetastet bleibt, und obwohl die digitalen Medien mit der Hoffnung verbunden waren, Informationsungleichheiten abzubauen und eine Belebung des demokratischen Diskurses herbeizuführen. Steht hinter der Rhetorik von Demokratisierung, Fortschritt und Transparenz letztlich doch nur der Wunsch nach Kontrolle und Profit? Die großen Internet- und Kommunikationskonzerne mutieren zu parastaatlichen Akteuren und installieren Infrastrukturen,von monopolistischen
Suchmaschinen über soziale Netzwerke bis hin zu Datenübertragungsnetzen, die nationaler Souveränität schon deshalb entzogen scheinen, weil es die jeweiligen staatlichen Finanzhaushalte und der Stand der öffentlichen Forschung gar nicht zulassen, eigene Strukturen zu installieren.
Das System von Google, Amazon und Co. ist alternativlos geworden und lässt es gar nicht zu, dass sich Gesellschaften dieser übergeordneten Struktur entziehen. Nur China hat sich widersetzt. Doch hier wurden in den letzten Jahrzehnten, durch konsequenten Aufbau von parallelen staatlichen Strukturen mit Social Media und Suchmaschinen, die Voraussetzungen für neue Dimensionen des Totalitarismus’ geschaffen. Das zum Bestand der Diktatur erforderliche Verhalten der Menschen wird durch Vergünstigungen initiiert und unerwünschtes Verhalten durch Bestrafung eingedämmt. Durch die permanente Überwachung müssen die für diesen Vorgang relevanten Daten nicht mehr von Spitzeln und Denunzianten geliefert werden.
Doch warum sollte uns dieser Weg erspart bleiben? Liegt seine Logik nicht gerade in der Technik begründet, die dafür geschaffen wurde?
Wenn Menschen und ihre intellektuellen und physischen Fähigkeiten als grundsätzlich defizitär verstanden werden, ist es natürlich zwingend notwendig, ihnen mit den Errungenschaften der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz auf die Sprünge zu helfen, sie also zu optimieren.
Genau das haben die Kolonialmächte auch geschafft, sie haben den indigenen Völkern Unfähigkeit und eine unzivilisierte Lebensform vorgeworfen. Diese haben dann, beeindruckt von Technologie, ihre Selbstbilder angepasst.
»Wenn Verhalten, das zum Wahnsinn führt, in einer Gesellschaft als normal gilt, lernen die Menschen, um das Recht zu kämpfen, sich daran zu beteiligen« sagt Ivan Illich und beschreibt damit einen fundamentalen Herrschaftsmechanismus. Herrschaft ist dann perfekt, wenn sie gar nicht mehr als solche empfunden wird, sondern sich in verinnerlichte Normen und Selbstzwänge übersetzt hat, denen die Menschen freiwillig und zum eigenen Vorteil zu folgen glauben. Mündiges und kritisches Beobachten bleibt die Grundlage des Widerstandes gegen eine schöne neue Welt, die uns direkt in Abhängigkeit und Manipulation führt und letztlich nur auf Profit abzielt.
Theater basiert auf analoger Begegnung zwischen Menschen. Es reflektiert das Leben und befragt das Zusammenleben. Theater wird immer ein Ort sein, an dem sich die Gesellschaft verständigt und vereinbart. Diese Vorgänge sind nicht auf Wenn-Dann- Zusammenhänge reduzierbar, denn die Reibungen menschlichen Zusammenlebens lassen sich nicht als binäre Probleme darstellen. Menschliche Lebensformen existieren innerhalb von Beziehungsverhältnissen und sind äußerst komplex.
Oft ist es nicht die intellektuelle Analyse, die auf der Bühne zählt, sondern vielmehr das Mitfühlen, das uns die Probleme und die Sichtweise anderer begreifen und verstehen lässt. Mein Team und ich laden Sie ein, auch in der kommenden Spielzeit bei uns am realen Leben teilzunehmen.
Ihr
Erich Sidler