Theater einBLICK

03.04.2024

Die Freiheit, Ich zu sein

Vincent Sartorius hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, eine Vorstellung der Uraufführung »Queerio« besucht.
Queerio
Zum Stück

Name? Tom. Geschlecht? Männlich. Name? Helena. Geschlecht? Weiblich. So beginnt die Lebensgeschichte von Helena (Violet Shiva) in den 1970er-Jahren. Tom, so wird er von seinen Eltern genannt, sieht sich als Frau, geboren im Körper eines Mannes. Tom (Moritz Schulze) war Helenas Bild nach außen und musste Helena verstecken, um in der krankmachenden Gesellschaft zu überleben. Der Vater (Noah Schlechtweg) bringt ihm das Boxen bei, indem er Tom befiehlt, ihn zu schlagen, damit er ein Mann wird. Seine Mutter (Nathalie Thiede) nimmt in dieser patriarchalen Gesellschaft alles hin, weil sie sich untergeordnet hat. Verschiedene Stadien von Helenas Kampf werden hier gezeigt. Beispielsweise beim Militär, wo Tom jedem Befehl folgen und immer noch sein Ich verstecken muss. Er nimmt Heroin, wird abhängig, nur weil er nicht Sie sein kann, ohne dass die Gesellschaft ihn nicht angreift, ihn ausstößt. Tom möchte ein eigenes Leben, wird Vater und kann in den 2010er Jahren seine Liebe mehr und mehr ausdrücken. Auch dank Online-Dating-Apps. Helena bleibt die ganze Zeit bei ihm, denn Tom kann nicht ohne sie leben. 2022 kam das Coming-out. Sie wird immer noch schief angeguckt, geschlagen und getreten. Nachdem Helena aus dem Koma aufgewacht ist, versucht Tom, sie endgültig wegzusperren, was nicht gelingt. Helena ist nach einem langen Kampf endlich selbstbestimmt.
Erzählerisch beginnt das Theaterstück mit einem Epilog, in dem jede*r sein darf, wie er*sie möchte. Die Schauspieler*innen reißen im Verlauf der Inszenierung die vierte Wand ein, um dem Publikum von den Problemen zu berichten, die eine Transfrau im Alltag hat. Ebenso, um sie zu konfrontieren, mal mit Witz, mal mit Tragik. Und immer ist der Kampf Helenas im Vordergrund. Dabei wechseln die Schauspieler*innen in verschiedene Rollen. Alle vier Schauspieler*innen spielen in einer wunderbar tragikomischen Art und Weise. Das Bühnenbild und die Kostüme stechen hier besonders hervor. Thomas Unthan (Bühne und Kostüme) hat hier großartige Arbeit geleistet.
Philipp Löhle, Regisseur und Autor am Deutschen Theater Göttingen, hat dieses Theaterstück geschrieben. Dabei arbeitete er mit der LGBTQIA+-Community und dem Queeren Zentrum in Göttingen zusammen. Grundlage ist auch eine Biografie einer Transfrau, die hier ihre Geschichte erzählt. Das Stück macht aufmerksam auf den langen Kampf der LGBTQIA+-Community, die bis heute um ihre Rechte kämpfen muss. Es ist vor allem die zumeist patriarchale Gesellschaft, die immer noch Ressentiments gegen die Community zeigt. Transition des Geschlechts und Transition der Gesellschaft: Wie weit sind wir?
Am Ende der wunderbaren Inszenierung wurde alkoholfreier Sekt und O-Saft serviert, was die Zuschauer zunächst verwunderte. Denn teilweise wusste man nicht, ob dies das Ende der Vorstellung war oder nicht und so war der Applaus verhaltener, als er eigentlich sein sollte. Das humorige und tiefsinnige Stück lässt die Zuschauer*innen mit vielen Anregungen zurück. Zum Schluss konnten sie ins Gespräch mit den Schauspieler*innen kommen. Ein amüsantes Ende, anders als erwartet, was die Verschiedenheit der Theaterlandschaft ausmacht. Ganz wie unsere Gesellschaft sein sollte. Frei von jeder Angst sich zu outen. Frei, Ich zu sein. 1.4.2024

 

© Thomas Müller