Liebes Publikum!

»Der Präsident verfügt
über alternative Fakten.«
Kellyanne Conway

 

Als Kellyanne Conway die Öffentlichkeit mit dem Ausdruck »alternative Fakten« beschenkte, um die nur spärlich vorhandene Publikumsresonanz zur Inauguration des 45. Amerikanischen Präsidenten schönzureden, löste dies große Heiterkeit aus.
War das jetzt ein unglücklicher Versuch, die Trumpadministration im postfaktischen
Zeitalter zu positionieren. Inzwischen ist mir das Lachen restlos vergangen, der Begriff hat sich seinen Platz im Duden gesichert und wir müssen einsehen, dass Frau Conway hier, geradezu visionär, einen Begriff in die Welt gesetzt hat, der ein Phänomen
sichtbar macht – oder war die Begriffskreation so treffsicher, dass sich dazu via soziale
Medien ein Phänomen herausgebildet hat?

 

Mit KI bekommt diese Bezeichnung gerade eine noch stärkere Schlagkraft, die das Private wie das Politische massiv destabilisieren und unsere Freiheit in vielerlei Hinsicht bedrohen wird. Bildlich gesehen stehen wir auf einem Schneebrett, das sich in Bewegung gesetzt hat, und wir drohen in eine Lawine alternativer Fakten jeglicher Ausprägung zu geraten, mit allen Konsequenzen, die dabei mitzudenken sind.

 

Die Wirkmacht des Meisterwerkes »Judith enthauptet Holofernes« ist nicht faktenabhängig. Hier zählt das Sinnbild, die Metapher und nicht, ob diese Szene so oder überhaupt stattgefunden hat. Die Malerei interessiert sich ausschließlich für Wirkung.
Judiths Blick ist fokussiert auf ihr scheinbar alltägliches Handeln, das Zerlegen eines Truthahnes mit dem entsprechenden Besteck beispielsweise. Der assyrische Feldherr Holofernes jedoch ist es, der auf seinem Lager liegt, während sie ihm mit einem Schwert den Kopf vom Leib trennt. Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, hat diese Szene des Alten Testamentes um ca. 1600 in Rom zu einem Bild mit höchster Dramatik verdichtet. Er war einer unter vielen, die sich diesem Sujet zugewandt haben. Doch Caravaggio versetzt sein Publikum mit seiner Darstellung dieses Mordes, die anmutig und befremdlich zugleich, erhaben, geheimnisvoll und rätselhaft ist, in wundersames
Staunen.Jenseits von Faktenlage entsteht eine erlebbare Wahrheit.

 

»Niemand hat je bezweifelt,
dass es um die Wahrheit in
der Politik schlecht bestellt ist.«
Hannah Arendt

 

Inzwischen haben das Demokratieversprechen und die Kommunikationsrevolution, die unbescheiden mit dem Buchdruck, oder gleich mit der Zellteilung verglichen wurde, ihren Glanz verloren. Die Möglichkeit, sich zu vernetzen, sich auszutauschen und das Wissen wie die Erfahrung weltweit zu teilen, ist zweifellos eine schöne Vor stellung. Dass jedoch die Algorithmen die Emotionen in diesen Netzwerken gezielt hochpeitschen, war nicht so vorgesehen. Das Gegenargument wurde durch die Echokammern abgeschafft.
Die Folge ist Hass, Angst und Radikalisierung, im besten Falle Verblödung.

 

Die Ausrichtung des Algorithmus auf einen hervorgehobenen Standpunkt, egal ob Lüge,
Verschwörung oder Analyse, initiiert bei den Menschen am Bildschirm emotionale Resonanzen wie Aggressionen, Sehnsüchte und Ängste. Wenn sich durch Klicks herausstellt, dass sich die Aufmerksamkeit dieser Menschen mit abstrusen Inhalten mehr erregen lässt als mit Fakten, zeigt der Algorithmus mehr davon an, was mehr
Produkte verkaufen lässt und die Manipulation der politischen Meinungsbildung erleichtert. Es wäre durchaus möglich, dass die Techkonzerne ihre Algorithmen anders programmieren, um die Freiheit der Menschen zu wahren, den Diskurs zu fördern
und Fakten als Basis der politischen Meinungsbildung vorauszusetzen. Grundsätzlich
stimuliert die Lüge mehr, weil sie origineller, sensationeller und anregender ist und dadurch mehr geklickt wird. Forscher*innen haben herausgefunden, dass die Wahrheit
sechsmal länger braucht, um 1500 Menschen zu erreichen, als die Lüge. Die Wissenschaft hat bereits nachgewiesen, dass Mark Twain genau recht hatte als er sagte:

 

»Eine Lüge ist bereits dreimal
um die Welt gelaufen, ehe
sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.«

 

Caravaggio versteht es meisterhaft, mit dem Ausdruck der Figuren und der Lichtführung die Aufmerksamkeit seines Publikums zu gewinnen. Es ist die unfassbare Präzision eines
Momentes. Der Mord am Tyrannen befreit ihr Volk von Vertreibung und Vernichtung. Judith ist unter großer Gefahr ins Lager der feindlichen Armee getreten, hat den General mit ihrer Schönheit bezirzt, ihn verführt, abgefüllt und den intimen Moment genutzt, um ihn zu exekutieren. Die Wachen, vor dem Zelt des Feldherrn, werden sie bald zur Rechenschaft ziehen. Sie hat sich aufgeopfert, Täterin zu sein.

 

»Was, wenn künstliche
Intelligenz erwacht?«
Michal Kosinski

 

Mit der KI, die zur Stunde einen Entwicklungssprung vollzieht, vervollständigen wir den Schritt in die virtuelle Welt. Sie wird in Kürze unsere Wirklichkeit so täuschend imitieren, dass wir ein Gegenüber wähnen – da ist aber niemand, außer eine Macht, die
zum Schluss kommen könnte, dass der Mensch, nachdem er abhängig und unfrei geworden ist, schließlich überflüssig wird. Hannah Arendt ging im Zentrum ihres Denkens immer vom Menschen als handelndem Wesen aus. Wir sind stets in der Lage zu handeln und haben die Freiheit verschiedener Optionen.

 

Freiheit ist für sie jedoch keine subjektive Eigenschaft, sondern an die Anwesenheit anderer Menschen geknüpft. Der bewusste Gang in den öffentlichen Raum und die daraus folgende Interaktion mit anderen schaffen Verbindungen, sprechend und handelnd – und staunend –, die Freiheit beinhalten. Arendt bezeichnet diese Momente der Interaktion im öffentlichen Raum als menschliche Möglichkeit, bestehende Prozesse zu unterbrechen und neue, unvorhergesehene Anfänge zu initiieren.

 

Wer sich der Wirkkraft des Gemäldes »Judith enthauptet Holofernes« aussetzt, begegnet intensiv einem Menschen, dem Künstler Caravaggio. Eine Persönlichkeit, die, wie ihr Werk, unglaublich faszinierend und höchst widersprüchlich, streitbar, gewalttätig, launisch und unergründlich zugleich ist.

 

Ob es Judith ist, die mit ihrem Mord ein Terrorregime stürzt oder ob es Rosa Parks ist,
die sich der rassistischen Praxis widersetzt und den Sitzplatz im Bus, der weißen
Menschen vorbehalten war, auch nach Aufforderung, nicht freigab und so die amerikanische Bürgerrechtsbewegung auslöst: Indem sie ihre Freiheit der Entscheidung nutzt und andere ihnen gefolgt sind, haben sie eine Lawine ausgelöst, die nicht sie, sondern den alten Ballast unter sich begrub.

 

Verehrtes Publikum, das Theater ist der analoge Ort gemeinsamen Erlebens, die Bühne erzählt fortwährend von den Menschen, die ihre Optionen nutzen und handeln. Jede Vorstellung im Theater ist eine Annäherung an Freiheit.

 

Wir laden Sie herzlich ein, sich zusammen mit uns diesem Ereignis auszusetzen. Ich freue mich auf viele Begegnungen und Gespräche.

Ihr
Erich Sidler