Sommerempfang 2023

Zukunft gestalten
Extra
Premiere 26. Juni 2023
Dauer 105 Minuten
Herzlichen Dank für die Einladung, ich freue mich hier und heute für die Bedeutung des Stadttheaters für die Stadtgesellschaft zu werben, für die Bedeutung des Deutschen Theaters in Göttingen für die
Göttinger:innen und alle Menschen aus dem Umland.
Von 2006-2011 war ich hier am Deutschen Theater Göttingen Verwaltungsdirektorin,
habe daher von der Bedeutung nicht nur eine abstrakte,
sondern eine sehr konkrete Vorstellung:
Das Haus am Wall war und ist der Ort der Begegnung für die
Menschen aus Stadt und Umgebung.
Unsere Demokratie braucht Begegnung und das Theater ist der
Ort, an dem Begegnung und Austausch stattfindet.
Die Niederländer Tom Blokdijk und Arthur Sonnen verweisen in
einem Essay auf Lessing:
»Das Stadttheater, als Institution, ist der Ort, an dem auf Basis
einer ungeschriebenen Vereinbarung mit den Bürger:innen der
Stadt das verhandelt wird, was die Stadt beschäftigt, die Stadt
bewegt«,
sie nennen das eine
»ungeschriebene Vereinbarung mit den Bürger:innen der Stadt,
dass es im Theater um die Stadt und ihre Themen geht [wie im
Rathaus 'nebenan'].«1
Warum gehen wir in Theater?
Warum schauen sich Menschen Kunst an?
Dazu hat der belgische Autor, Regisseur und Theaterleiter Stijn
Devillé in einem Impuls vor gut 2 Wochen zur Eröffnung der
Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins gesagt:
»Um uns selbst in all unserer Zerbrechlichkeit anzuschaun
den Menschen
den lebenden Menschen
mit Stimme und Körper
den Menschen
und seinen Kampf mit dem Leben
das ständige Üben.
Ecce homo.
Seht, der Mensch.
Kunst und auch die Literatur fungieren in diesem Sinne
als eine Art Flugsimulator fürs Leben.
So – wie angehende Piloten das Fliegen
in einem Flugsimulator üben können
können wir ein Leben lang üben
indem wir ins Theater gehn
(…)
wir sehen uns selbst
den Menschen und wie wir scheitern oder Erfolg haben.
Das gibt uns Hoffnung
Trost
oder jedenfalls Erkenntnis.
Viele Menschen
umschreiben den intrinsischen Wert
von Kunst
als Ergriffenheit
Vorstellungskraft
Erkenntnis.
Was subjektive Meinungen zu sein scheinen.
Der niederländische Professor für
klinische Neuro Psychologie Eric Scherder
hingegen beschreibt
wie Kunst unser Gehirn an verschiedenen Stellen
stimuliert und es 'in Bewegung' hält.
Beim Betrachten von Kunst entsteht Aktivität
im oberen Hirnstamm:
Eine dickere Großhirnrinde führt auch dazu
dass man
deutlich
besser
denken
sprechen
und
rechnen
kann.
Darüber hinaus kann man viele Informationen auch
räumlich verarbeiten und an den Frontallappen
an der Vorderseite des Gehirns
durchschleusen.
Das sorgt für Kreativität und Flexibilität.
Das ist der intrinsische Wert von Kunst:
dass sie uns ermöglicht, uns als Menschen
(und als Gemeinschaft) zu entwickeln.
Gerade darum halten wir die Künste für wichtig.
Wenn wir zuschaun wie sich andere Menschen verhalten
laufen die Spiegelneuronen
in unserem Gehirn auf Hochtouren.
Diese Spiegelneuronen spielen eine Rolle
beim Verstehen und Interpretieren
vom Handeln von anderen.
Wir entwickeln Fähigkeiten
und steigern unser emotionales Einfühlungsvermögen
unseren Spracherwerb und unseren Einblick in Denkmuster von
anderen.
Und im Theater machen wir genau das:
zwei Stunden lang
ganz konzentriert
anderen Menschen zuschaun
sicher – von unserm Platz aus – im Dunkeln.«2

Deswegen brauchen wir Theater.
Was für ein Theater brauchen wir im 21. Jahrhundert?
Wir brauchen offene Orte, die alle Menschen der Stadtgesellschaft
einladen, zum Besuch: Das Theater gehört nicht Ihnen oder mir –
das Theater gehört uns allen.
Sie stehen vor der spannenden und elementaren Aufgabe, das
Haus am Wall der Stadtgesellschaft zu erhalten – über eine
Sanierung.
Ich durfte vor einigen Jahren zusammen mit meinem damaligen
Intendanten als Bauherren eine Sanierung verantworten – die
Sanierung und Modernisierung des Düsseldorfer Schauspielhaus.
Bauherr sein heißt, rechtlich und wirtschaftlich verantwortlich zu
sein für das was passiert an einem Gebäude, dessen Eigentümer
man nicht ist und für dessen Umbau man kein eigenes Budget
hat: weil Gebäude und Budget Gemeineigentum sind.
Und es bedeutet, sich beim Bauen in einem Korsett der
Öffentlichen Hand zu bewegen, beginnend von der
Ausschreibung der Planung bis hin zur Abnahme.
Die Nutzer*innen des Gebäudes müssen beteiligt werden –
nicht zwingend in der Bauherrenrolle, aber mit einer starken
Stimme:
würde man das wollen, dass einen Jemand aus der Wohnung in
eine Ersatzwohnung umsiedelt, dieser Jemand dann umbaut,
und einem die Wohnung nach dem Umbau wieder zurückgibt?
Es ist zielführend, dass die Nutzer:innen verantwortliche
Ansprechpartner:innen für die Planungen beim Bauen sind.
Und dass sie dabei sind, wenn gebaut wird, weil sie das Gebäude
ja wieder nutzen wollen, und nur so verhindert werden kann,
dass die Nutzer wieder alles umbauen müssen, weil sie nach
Übergabe feststellen müssen, dass es gar nicht passt, für die
geplante Nutzung – für das Stadttheater des 21. Jahrhundert.
In Düsseldorf haben wir damals als Bauherren– zusammen mit
dem Eigentümer des Hauses und unseren beiden Trägern – einige
Weichenstellungen vornehmen können:
Die bronzierte Glasfassade, die das Haus zu einem elitären Ort
der Abschottung machte, wurde durch eine Klarglasfassade
ersetzt: das Haus wurde damit offen, transparent und einladend,
als Raum für Gespräche.
Barrierefreiheit wurde so weitgehend wie nur möglich hergestellt:
keine Kür, sondern Pflicht bei einem öffentlichen Gebäude, das
ein Ort für alle Menschen ist.
Das Foyer wurde als offener Ort gestaltet – für die
Stadtgesellschaft zu nutzen nicht nur vor und nach der
Vorstellung, sondern auch tagsüber, um zu lesen, Mails zu
schreiben – d.h. es gibt es WLAN und Steckdosen – sich mit
anderen Menschen auf einen Kaffee zu treffen, oder auch nur den
Blick in den Hofgarten zu genießen.
Das alles war nur möglich, weil wir als die Macher:innen
mitgestaltet und mitentschieden haben – die Klarglasfassade
nutzt schließlich nichts, wenn niemand aus dem Foyer hinausund
niemand hineinschaut, der offene Ort funktioniert nur, wenn
er geöffnet wird, Menschen mit Behinderung müssen wissen, dass
sie nun endlich auch barrierefrei das Kleine Haus erreichen
können.
Wir haben die Sanierungsmaßnahmen damals für die
Stadtgesellschaft transparent gemacht, über regelmäßige
Führungen durch die Baustelle, die sehr gut angenommen wurden
und dazu geführt haben, dass es für die Düsseldorfer:innen schon
während der Umbau-Maßnahme wieder IHR Haus wurde, IHR Ort
der Begegnung.
Bei der Eröffnung Anfang 2020 – kurz vor Ausbruch der Pandemie
– wurden wir überrannt von Menschen, die sich den Ort, der für
sie über viele Monate nicht, oder nur mit großen Einschränkungen
zur Verfügung stand, zurückerobern wollten.
Eine Stadt braucht ihr Theater,
Göttingen braucht das Haus am Wall,
die Theatermacher*innen brauchen jetzt die Träger und die
Stadtgesellschaft,
es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt,
das gemeinsame Anstrengung für die Gemeinschaft benötigt –
ich bin sicher, dass ich mit dieser Aussage Eulen nach Athen
bringe, denn das Deutsche Theater Göttingen war und ist immer der lebendige Ort der
Begegnung gewesen, der Flugsimulator für unser Leben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!



Anmerkungen
1 Tom Blokdijk & Arthur Sonnen – »Groß und Klein – Eine niederländische Tragödie« erschienen in BlokboekBlokschijf – BlokbuchBlokscheibe – Ein Buch mit Aufsätzen von Zeitgenossen die über Tom Blokdijk schreiben und eben dieses Essay zusammen mit Arthur Sonnen, über den Stand der Dinge. Mit beiliegender CD auf der sich 98 Dokumente von Tom Blokdijk aus der Zeit von 1970 bis 2007 befinden. Eine Anthologie mit Essays, Artikeln, Kritiken, Reden, Vorträge, Visionen und Flammreden … einzigartige Zeitdokumente einer lebendigen Theaterszene.


2 Stijn Devillé – »Es geht um Kunst« – Impuls zur Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins 2023 im Theater Koblenz.

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