Theater einBLICK

08.05.2023

»Gregor?!«

Katja Hellmys hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Die Verwandlung« besucht.
Die Verwandlung
Zum Stück

Das erste Wort hallt im fragenden, wie bestimmenden Ton durch das Theater. »Gregor«, der Name verweist auf einen Verschwundenen, der fortan als Abwesender Protagonist des Stücks ist. Ohne Erklärung, ohne erkennbare Ursache, verwandelte sich Gregor in einen Käfer und lässt seine Familie ratlos zurück: Die Mutter verkörpert von Judith Strößenreuter, sein von Roman Majewski dargestellter Vater und die Schwester, gespielt von Gaby Dey.
Es ist das Rätselhafte an Franz Kafkas »Die Verwandlung«, das sich einer profanen Deutung entzieht. Und so versucht Regisseur Philipp Löhle in der von ihm geschriebenen Fassung von Die Verwandlung erst gar nicht dieses Rätselhafte zu erklären. Vielmehr kann sich das Publikum, durch das von Thomas Rump großartig entworfene Kostüm- und Bühnenbild in eine Fantasiewelt begeben. Das dominierende Schwarz-Weiß in Kostüm, Maske und Bühne unterstreicht dabei die Nähe der Inszenierung zum Stummfilm.
Zugleich wird auf diese Weise ein beinahe absurdes Abbild der Familie geschaffen. In dieser absurden Welt stellt sich bei genauem Hinsehen die Frage nach der Identität Gregors. Eine Identität, die sich gänzlich aus der Sicht der anderen konstruiert, deren anfänglicher Irritation zunächst Angst und dann Ekel folgt, der sich schließlich mit frustrierter Gleichgültigkeit paart. Was zurückbleibt ist ein Käfer, dessen Gegenwart die Erinnerung an die Person verdrängt, die er einst gewesen war und nur eine dumpfe Ahnung von der Rolle des Verschwundenen im Leben der Suchenden zurücklässt. Weder Liebe noch Sehnsucht motivieren das Handeln der Familie nach Gregors Verwandlung. Vielmehr verschwand mit ihm der Versorger der Familie, auf dessen Schultern deren Lebensstil nach dem Ruin des Vaters aufrechterhalten wurde. Es ist damit die leidliche Suche nach der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, welche in die Notwendigkeit übergeht, diese nun mehr selbst befriedigen zu müssen. Der Wandel vom Gebenden zum Nehmenden macht den Sohn und Bruder zu einer Last, seinen Tod zur erwartetet Erlösung.
Komödiantisch inszenierte Löhle das Tragische, das in der Erkenntnis der Reduktion des Menschen auf seine gesellschaftliche Rolle liegt. Begleitet von einem wunderbaren Wortwitzes, der Leichtigkeit des Spiels der Hauptdarsteller*innen, den fantastischen Kostümen erklingt in diesem absurden Spektakel eine leise Melodie, welche beim genauen Hinhören die Symphonie zu einer Kakophonie wandelt. »Die Verwandlung« ist eine bittersüße wie aufwendig gestaltete Inszenierung, die das Publikum mit der stillen Frage zurücklässt, ob Gregors Verwandlung die Flucht vor seiner damit offenbarten trostlosen Welt war. 4.5.2023

 

© Thomas Müller