Theater einBLICK

26.10.2023

Helmer stinkt oder Burn it down

Katja Hagedorn und Ronja Kirschke haben für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Nora oder Ein Puppenhaus« besucht.
Nora oder Ein Puppenhaus
Zum Stück

Obwohl das gespielte Stück mit dem Namen der Hauptfigur übertitelt ist, bleibt zunächst vor allem die Erinnerung an Torvald Helmer, ihren Ehemann zurück. Als offensichtliche Verkörperung des Patriarchats spielt Gabriel von Berlepsch ihn als unerträglichen, von sich selbst überzeugten Mann, der glaubt, sein (beruflicher) Erfolg fuße auf der eigenen Genialität. Die Arbeit, die um ihn herum erledigt wird, das berühmte ›ihm-den-Rücken-freihalten‹ (durch seine Frau und diverse andere weibliche Angestellte), sieht er nicht. Das frustrierende daran ist, dass sich in den fast 150 Jahren nach Veröffentlichung des Stücks gesellschaftlich nicht so viel getan hat. Auch wenn Ibsen seinerzeit eine feministische Identifikationsfigur hat schreiben wollen – was in der Forschung diskutiert wird – müssen sich heutige ›feministische‹ Lesarten sicher auf den in der Vorlage (fehlenden) intersektionalen Aussagewert hin befragen lassen – noch immer sind Helmers einer relativ privilegierten Gesellschaftsschicht, dem bürgerlichen Milieu zuzuordnen, noch immer liest man sie als weiß. Dennoch lässt sich die »Nora« gut in das 21. Jahrhundert übertragen, der Text funktioniert mit wenigen Anpassungen weiterhin. Dies gelingt auch durch ein zeitgenössisches Bühnen- und Kostümbild (Bühne: Thomas Rump; Kostüme: Ilka Kops). Auch heute streben Frauen ein Idealbild von ›Weiblichkeit‹ an, sind geprägt durch den male gaze. Es ist eine geschickte Einrichtung des Patriarchats, dies alles unter der Überschrift ›Liebe‹ laufen zu lassen.
Tatsächlich ist sich die hiesige Titelfigur ihres Puppenhauses im Grunde schon immer bewusst, denn sie weiß genau, was sie tun muss, um das zu bekommen von dem sie denkt, dass sie es will. Denn nicht umsonst hat sie die relativ plötzliche Erkenntnis, dass sie ein richtiger ›Mensch‹ werden muss. Angelegt ist ihre ›Menschlichkeit‹ schon in ihrer Tarantella, in der sie bereits einmal mit dem Puppendasein bricht – was Torvald lautstark ablehnt (Choreografie: Felicitas Madl). Die Rolle der Nora wurde in Marcel Gislers Inszenierung perfekt mit Gaia Vogel besetzt, die sie mit Leichtigkeit spielt, dennoch aber genau um ihren Wert weiß – Helmer wäre nichts ohne sie, nicht einmal am Leben. Auch ihrer Freundin Kristine Linde (Andrea Strube) bietet sie die Stirn als sie ihr vorwirft, nichts von Sorgen zu wissen. Die Parallelität zwischen ihnen: Beide opfern sich der ›Liebe‹ wegen auf und bezahlen dies mit persönlichem Verlust. Frau Linde entsagt der romantischen Liebe und geht eine Vernunftehe ein, um ihre Mutter und Geschwister zu retten. Verwitwet bleibt sie jedoch mittellos und ohne den Rückhalt ihrer Familie zurück. Nora begeht eine Straftat, um ihren Mann zu retten, der dies jedoch nicht honoriert und lediglich um sein eigenes gesellschaftliches Ansehen besorgt ist. Was Liebe jedoch tatsächlich bedeutet, weiß er nicht. Ebenso wenig wie Dr. Rank (Volker Muthmann), der beste Freund des Ehepaares, der sich das Recht herausnimmt, Nora seine ›Liebe‹ gestehen zu müssen. Wie die Figur der Frau Linde gewinnt auch Rechtsanwalt Krogstad (Marco Matthes) bei Gisler an Tiefe: Dieser ist nicht der bösartige Antagonist, für den man ihn in der Textvorlage hält. Auch er tut, was er tun muss, um seinen Kindern und sich das Überleben zu sichern. Im Zusammenhang mit seiner Jugendliebe Kristine zeigt er tiefe Verletzlichkeit und Sensibilität.
Einen Kontrast zu Berlepschs Torvald bildet Vogels Nora am Ende der Inszenierung, als sie Torvald trotz seiner gewaltvollen Versuche, sie vom Ausbruch abzuhalten, geht. Kraftvoll öffnet sie die Tür, nimmt einen tiefen Atemzug und geht hindurch. Die Göttinger »Nora« ist bestens dafür geeignet, junge Leute einerseits an das Theater zu binden und andererseits zu verdeutlichen, wie viel noch zu tun ist, damit sie schreien: Wir wollen das Puppenhaus brennen sehen. Oder nicht weniger radikal: Toxische Beziehungsmuster zu erkennen und diese zu verlassen. 24.10.2023

 

© Thomas Müller