Theater einBLICK

23.05.2023

Käfer allein zu Haus

Ina Laegner hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Die Verwandlung« besucht.
Die Verwandlung
Zum Stück

Die Inszenierung von »Die Verwandlung« von Philipp Löhle als Regisseur und Autor nach Franz Kafka als Horrorkomödie ist ein genialer Schachzug. Die Tragödie im Stück ist, dass ein Familienmitglied, der Sohn, scheinbar ohne Grund über Nacht zu einem Insekt mutiert und damit das Familiensystem in große Schwierigkeiten bringt. Doch diese Tragödie ereignet sich im komödiantischen Ton und dieser Kontrast zwischen Komödie und Tragödie ist ein belebendes Element.
Der Sohn (Lukas Beeler) hatte bis dahin die gesamte finanzielle Versorgung von Mutter (Judith Strößenreuter), Vater (Roman Majewski) und Schwester (Gaby Dey) gesichert und hat trotz Dienstmädchen (Anna Paula Muth) morgens noch für alle Frühstück zubereitet. Er übernahm diese familiäre Verantwortung, nachdem der Vater geschäftlich bankrott war. Fünf Jahre funktioniert das System bis Gregor Samsa am Morgen als Käfer erwacht.
Die Vorgeschichte bis zu der Verwandlung ist in Stummfilmästhetik auf der Bühne inszeniert. Hinter einer schwarzen Gaze unterbrochen von Untertiteln agieren die Schauspieler wortlos. Das ist sehr originell und wirkt absurd. Die Gaze verschwindet, die gesprochene Sprache kommt, wenngleich das etablierte schwarz/weiß erhalten bleibt. Hierin bewegen sich die Figuren in überzeichneten Kostümen, Frisuren und Gesten, was an die Rocky Horror Picture Show oder die Addams Family erinnert.
Interessant zu beobachten ist, wie die Familie erst über die Verwandlung geschockt ist und Mitgefühl zeigt, wobei die Eltern sich weigern das Tier zu versorgen. Das findet ausschließlich über die Schwester und das Dienstmädchen statt. Im weiteren Verlauf verändert sich die Beziehung zu Abgrenzung, Ekel und letztlich nach dem Wunsch ›das Insekt‹ zu entfernen. Auch in finanzieller Hinsicht wirft die Verwandlung des Sohnes Probleme auf: Alle Familienmitglieder sind jetzt gezwungen, für das finanzielle Auskommen zu sorgen. Es werden sogar drei skurrile Untermieter aufgenommen, die anfangs sehr abgehoben und anspruchsvoll auftreten, im Verlauf tierische Verhaltensweisen entwickeln und nach Entdecken des Insektes, ohne zu zahlen, wieder verschwinden. Vom Käfer selbst sieht man in der Regel nur ein paar Fühler. Beeindruckend echt ist die Szene, als er einmal aus dem Zimmer kommt und an der Wand herum klettert. Als Insekt versteckt lebt der verwandelte Sohn, der sich viele Jahre für die Familie aufgeopfert hat, allein und einsam in seinem Zimmer, hört auf zu fressen und stirbt.
Beeindruckend ist während des Stückes zu beobachten, welche Veränderungen im Familiensystem entstehen. Durch die Überlebensstrategien entwickeln die Familienmitglieder Aktivitäten, kommen aus der Passivität heraus, haben aber einen Empathieverlust dem verwandelten Sohn/Bruder gegenüber. Die Tochter, die im Schatten des Sohnes stand, entwickelt Selbstbewusstsein und bekommt Anerkennung durch die Eltern.
Nach dem Tod Gregor Samsas zeigt die Familie keine Trauer, sondern Erleichterung und plant, einen gemeinsamen Ausflug zu machen. Darin zeigt sich, dass keinerlei emotionale Verbindung zu Gregor als Insekt mehr vorhanden war und dessen Tod für alle ein Akt der Befreiung wird. Die originelle Schlussszene ist, dass die Eltern in Kontakt zum Publikum treten, um einen potenziellen Schwiegersohn zu suchen.
Das Stück ist sehr unterhaltsam, komödiantisch mit ernstem Kern und wird nie platt. Die Spielfreude der Schauspieler*innen, die Idee der Horrorkomödie, das Bühnenbild, die Kostüme und das Insekt selbst (Thomas Rump) sind sehr gelungen und hinterlassen das Gefühl, auf der Bühne mal wieder ein schönes Theaterabenteuer erlebt zu haben. 22.5.2023

 

© Thomas Müller