Theater einBLICK

29.06.2023

Liebeserklärung an das Theater durch das Theater

Lisa Eisenkrätzer hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Funkensprung« besucht.
Funkensprung
Zum Stück

Der Club hat sich durch eine offene Einladung zum Theaterspielen der Ensemblemitglieder Tara Weiß und Daniel Mühe im Februar dieses Jahres erstmalig zusammengefunden. Gewachsen ist daraus ein absolutes Herzensprojekt aller Beteiligten, ein respektvoller Austausch auf Augenhöhe zwischen der Club-Leitung und den sechs Teilnehmer*innen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, eine Liebeserklärung an das Theater durch das Theater.
»Funkensprung« – als »dramatische Annährung« unterschrieben – orientiert sich an den Stücken »Hamlet«, »Macbeth« und »Die Räuber«. Die Auswahl der Texte und der Wunsch, sie sich spielerischen zu eigen zu machen, haben die Clubmitglieder an Weiß und Mühe herangetragen. Ergänzt wurden zentrale Passagen der Klassiker durch moderne dialogische Annährungen, die Weiß im Schreibprozess mit den Teilnehmer*innen entwickelte.
Zu Beginn der Inszenierung nähren sich die sechs jungen Darsteller*innen ganz in weiß durch die Eingangstür der leeren, aufgeräumten Bühne – wie die unbeschriebenen Blätter einer Geschichte, die noch im Stadium der Erwartung steckt. Doch bevor sie überhaupt den Bühnenraum für sich reklamiert haben, nimmt die Gruppe die Zuschauer*innen mit in ihre Innenwelt und ihre Zweifel. Verdruckst, unsicher und mit einer unterschwelligen Abwehrhaltung wird diskutiert, wie und durch wen die Aufführung zu beginnen habe und wer dieses »wir« überhaupt ist, das sich auf die Bühne trauen soll.
Identitätsfindung ist eins der zentralen Themen des Abends; allein schon einen Namen für die Gruppe zu finden, den jede*n repräsentiert und zufriedenstellt, erweist sich als Ding der Unmöglichkeit. Aus der gespielten Ratlosigkeit heraus, wie der Abend auf der Bühne nun zu gestalten sei, suchen die Darsteller*innen sich durch einen gelben Turm von Reclam Büchern, mit dem einen typischerweise die gymnasiale Oberstufe ins Leben entlässt.
Haben diese mehr als zwei Jahrhunderte alten Texte noch einen Bezug zur Lebenswirklichkeit Heranwachsender des 21. Jahrhunderts?
Mag die Sprache beim ersten Hören auch fremd erscheinen, Ophelias Selbstzweifel, das Zerrissen-Sein zwischen Wunsch und Wirkung, die Divergenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung spielen sich wohl auf jeder inneren Bühne ab, wenn man sich das erste Mal das Herz gefasst hat, sich der großen Liebe zu offenbaren. Die Zuschauer*innen durchleben erneut durch eine Mischung der Worte Shakespeares und des Spieleclubs, wie es ist, sich den eigenen Gefühlen zu stellen und die eigene originelle Persönlichkeit in Verbindung mit und in Abgrenzung zu anderen zu finden.
Die schwierige Balance zwischen Ausprobieren und Rückzug, Rückversicherung durch andere und Streben nach Individualität nimmt uns nahtlos mit in die Welt von Macbeth. Jede Herausforderung bietet eine Gelegenheit zum Erwachsenwerden, zum Über-sich-hinauswachsen, aber auch zum kläglichen Scheitern. Ist es Mut, sich zu überwinden oder sich abzuwenden, der Stimme der anderen zu folgen oder die eigene Stimme zu finden?
Mit der Suche nach Orten und Personen, die sichere Entwicklungsräume bieten, wird das Publikum dann zu den »Räubern« geführt. Gemeinsam mit Amalia finden die Darsteller*innen, dass es wahren Mut braucht zu lieben und geliebt zu werden. Die forschenden Fragen wie sich die eigene Persönlichkeit formt – aus den Erwartungen anderer, extrinsisch oder den Anforderungen an sich selbst, intrinsisch – schließen die Erfahrungsreise ab und schlagen thematisch eine Brücke zu Hamlet und Ophelia vom Beginn des Abends.
Wie die Profis wechseln die Nachwuchsdarsteller*innen auf der Bühne die Kostüme, schlüpfen bildlich in verschiedene Rollen, führen Requisiten und das Publikum auf die Bühne ein und spielen mit Ton und Technik.
»Funkensprung« ist der nahe, persönliche und sehr sehenswerte Prozess des Erwachsenwerdens im Brennglas. Es ist der dramatische Abschied von der Kindheit, der nicht gelingt ohne die Kindheit in Stücke zu hauen und neu zusammenzusetzen. Es ist Ambiguität, die sich selbst noch nicht zu tolerieren gelernt hat, gewaltige und doch schwer zu fassende Wut sowie das Gefühl sie in die Welt schreien zu müssen, auf dass das Echo Klärung bringe. Es ist die Suche nach dem Sinn, die eine Schneise des Chaos hinterlässt und die Schönheit der Imperfektion.
Wer nach dem inspirierenden Besuch selbst Lust hat, sein eigens kreatives Chaos auf die Bühne zu tragen, für den öffnen Anfang nächsten Jahres die Spielclubs wieder ihre Pforten. Fragt man die Teilnehmer*innen des Spieleclubs, gibt es nur zwei Voraussetzung für’s Mitmachen: die Bereitschaft und den Willen sich selbst zu zeigen und alles zu geben. 29.6.2023

 

© Johannes Frei