Theater einBLICK
Zwischen Wahrheit und Illusion liegt eine dünne Schicht aus Stoff
Am Tag der Deutschen Einheit feierte »Die Wildente« – in einer modernisierten Theaterfassung von Simon Stone frei nach Henrik Ibsen – in Göttingen Premiere.
Sollte eine Lebenslüge, eine Schuld geheim gehalten werden, um den Familienfrieden aufrecht zu halten? Die Familie Ekdal, bestehend aus Hjalmar (Bastian Dulisch), seiner Frau Gina (Rebecca Klingenberg), ihrer Tochter Hedvig (Lou von Gündell) und Hjalmars Vater Ekdal (Gerd Zinck) führt ein bescheidenes, aber augenscheinlich glückliches Leben. Im Dachboden liegt eine halbverletzte Wildente, die Ekdal geschossen hat. Sie ist in Stones Fassung nicht mehr auf der Bühne, sondern steht metaphorisch für den Zwischenraum zwischen Illusion und Wahrheit, Leben und Tod. Nach Jahren besucht Hjalmars Jugendfreund Gregers (Gabriel von Berlepsch) seinen Vater Werle (Florian Eppinger), der erneut heiraten möchte. Werle nutzt diese Gelegenheit, um seinen Sohn zu fragen, ob er die Firma übernehmen möchte, da er bald er erblinden wird. Doch der Sohn lehnt ab. Gregers besucht später die Familie Ekdal und bringt deren Familienglück ins Wanken. Es beginnt ein Albtraum, indem die Frage nach der Schuld gestellt wird. Selbst die Religion, selbst die Liebe kann diese Lebenslüge nicht mehr auffangen. Wer hat Schuld? Die Mutter, die jahrelang geschwiegen hat, dass Werle der biologische Vater von Hedvig ist? Gregers, der die der heilen Familie zerstört, indem er die Wahrheit ausplaudert? Ibsen sowie Stone lassen offen, wer Schuld an dieser Tragödie hat. Stattdessen lassen sie uns selbst fragen, wie wir handeln würden.
Regisseurin Schirin Khodadadian hat eine spannende Form für die Inszenierung gewählt. Eine erste Besonderheit sind die Zeit- und Datumsansagen von Andrea Strube, die die Zuschauer*innen zu den verschiedenen Szenenwechseln mitnehmen. Zum anderen die plötzlich extrem laut werdende und abrupt abbrechende klassische Musik im Szenenwechsel. Der Eindruck entsteht, dass die Darsteller*innen den Elementen trotzen, wie dem Wind, dem Feuer, dem Regen und der Erde: Werle, der wie ein Brausewind auftritt, Ekdal, der sich ein Stück künstlichen Wald im Dachboden erschaffen hat. Die Schrotflinte, mit der sich Hedvig am Schluss selbst tötet. Gina und Hjalmar, die am Ende des Stückes im Dauerregen stehen, welcher ein Symbol für Trauer, für die Reinigung, vielleicht sogar ein Neuanfang sein könnte.
Auf der Bühne (Michael Lindner) wird mit vielen symbolhaften Formen gearbeitet. Jedes Requisit steht wie die Wildente für etwas. Die Bühne ist zwischen einer Vorderbühne und einer Hinterbühne aufgeteilt. Getrennt wird sie durch einen Stoffvorhang, auf dem Videos abgespielt werden und abnehmbarer Holzbretter. Während der Stückvorstellung werden diese Holzbretter verschiedentlich genutzt, mal als Sitzgelegenheit, mal als ›Waffe‹.
Ein weiteres Merkmal der Inszenierung ist der Humor, der leicht zugänglich für die Zuschauer*innen ist und Atempausen in der Dramatik schafft.
35 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, 80 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs fragen sich junge Menschen in der Gesellschaft, ob ihre Groß- und Urgroßväter in der SS waren. Das schonungslose Aufklären der eigenen Vergangenheit: Behält man das Geheimnis für sich, wie viele nach dem Krieg, oder zerstört man die Illusion? Ist irgendwann genug Zeit vergangen für die Wahrheit?
Nach 105 Minuten endet die Vorstellung mit standing ovations. Ein bewegendes und virtuos gespieltes Theaterstück, das einen lachen und weinen lässt. Es lässt einen mulmig zurück, sich der eigenen Frage stellend, wie man selbst handeln würde.
