Ins Netz gegangen 24.5.2025

EINE ARBEITERIN

Leben, Alter und Sterben

Didier Eribon

Aus dem Französischen von Sonja Finck

In einer Bühnenfassung von Alexander Weise

La mère | Die Mutter Gaby Dey / Le fils | Der Sohn Roman Majewski / L‘un et l‘autre | Der Eine und die Andere Nikolaus Kühn und Marina Lara Poltmann / Chœur de femmes | Chor der Frauen Elisabeth Alberty, Andrea Andrasch-Barth, Silke Aust, Kerstin Börst, Petra Dresing, Tina Gorf, Uta Grunewald, Gesa Heiten, Britta von der Höden, Gertrud Idziaschek, Heide Koltermann, Gudrun Voss

 

Regie und Bühne Alexander Weise / Kostüme Ilka Kops / Musik David Schwarz / Video Stefano di Buduo, Natan Andrea Ruzza / Dramaturgie Stephanie Wedekind / Regieassistenz Justin-Silvan Middeke / Soufflage Natasha Pandazieva / Regie- und Dramaturgiehospitanz Yasemin Dittmann

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Assistent der Technischen Leitung Henryk Streege / Beleuchtung Michael Lebensieg (Leitung/Einrichtung), Steffen Knoke (Einrichtung) / Ton- und Videotechnik Julian Wedekind (Leitung/Einrichtung), Tobias Steinfort (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung/Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal  Eike Hansen / Schlosserei  Robin Senger / Dekoration  Regina Nause, Axel Ristau / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer ca. 2 Stunden, keine Pause

 

Aufführungsrechte für die deutsche Übersetzung Suhrkamp Verlag, Berlin. Nach »Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple« von Didier Eribon, herausgegeben von Éditions Flammarion, Paris 2023.

 

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.

 

Probenfotos Isabel Winarsch

 

Unser besonderer Dank gilt Tina Fibiger für die umfangreichen Interviews.

Dank an Der Fahrdienst Göttingen, Allgemeiner Rettungsverband Niedersachsen-Süd e.V. für die Busfahrten.

Mit freundlicher Unterstützung durch AGV Mitte und ZUFALL logistics group.

DIDIER ERIBON

 

Der 1953 in Reims geborene Autor, Soziologe und Philosoph Didier Eribon zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen. Seine Werke umfassen die Biographie »Michel Foucault« (1991; dt. »Michel Foucault: Eine Biographie«, 1999) und »Réflexions sur la question gay« (1999; dt. »Betrachtungen zur Schwulenfrage«, 2019). Letzteres ist zum Klassiker und Gründungsdokument der Queer Studies geworden. Sein in zahlreiche Sprachen übersetzter internationaler Bestseller »Retour à Reims« (2009; dt. »Rückkehr nach Reims«, 2016), in dem er, ausgelöst durch den Tod seines Vaters, autobiografische Reflexion mit soziologischer Analyse verknüpft, wurde für das Fernsehen und das Theater adaptiert. Nun ist seine Mutter gestorben und erneut wird der Tod zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit: Didier Eribon rekonstruiert in »Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple« (2023; dt. »Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben«, 2024) die Biographie seiner Mutter und zeichnet zugleich das Porträt des Milieus der französischen Arbeiterklasse.

»In meinem Leben, in meiner Identität, in meiner Selbstdefinition hat sich etwas verändert. Ich war ein Sohn, jetzt bin ich keiner mehr. Solange meine Mutter lebte, ganz gleich, wie unregelmäßig und spärlich der Kontakt zwischen uns war, ganz gleich, wie wenig ich mich in meinem Leben dazu hatte durchringen können, Sohn zu sein (Ich wollte es nicht sein, ich empfand es als Belastung), war ich trotz allem ein Sohn gewesen. Jetzt bin ich keiner mehr. Meine Mutter wusste nicht viel darüber, womit ich am Gymnasium meine Zeit verbrachte, und noch weniger über mein Studium an der Universität. Was meine Mutter von meinem Leben mitbekam, als ich vierzehn oder fünfzehn war, hatte nicht viel damit zu tun, in welche Richtung mein Leben sich damals entwickelte, zumindest für mich, der ich mich jeden Tag ein wenig mehr von dem Leben entfernte, welches meine Mutter für meins hielt. Sie wusste auch nichts über die Abende und Nächte, die ich ab dem Alter von siebzehn Jahren an schwulen Treffpunkten verbrachte. Dieses Nachtleben war ein Geheimnis, das ich vor aller Welt verstecken musste. Mit neunzehn stand ich dazu, zeigte es offen, aber nicht gegenüber meinen Eltern und dem Rest der Familie. Ich weigerte mich, Homosexualität als Anomalie zu betrachten, die man der Familie beichten musste. Was wusste ich andersherum vom Leben meiner Mutter? Von ihrer Arbeit, von den Gefühlen, den Wünschen, über die sie nicht oft sprach.

Wo beginnt der Weg eines Klassenwechslers? Wie manifestiert sich diese Transformation? Was empfand meine Mutter dabei? Meine Mutter und ich sprachen dieselbe Sprache, Französisch, und auch wieder nicht. Die Kluft zwischen unseren beiden Sprachen hatte sowohl mit geografischer Distanz als auch mit Klassenverhältnissen zu tun: Ihre Regionalsprache war die Sprache der Arbeiterklasse aus Reims und der Champagne, meine war die Sprache der intellektuellen Milieus der Hauptstadt. Meine Mutter redete nicht nur ›wie jemand aus Reims‹, sondern auch ›wie jemand aus der Arbeiterklasse‹. Ich wiederum redete nicht nur ›wie jemand aus Paris‹, sondern auch ›wie jemand aus dem Bürgertum‹. Die Ausdrucksweise meiner Mutter war untrennbar mit ihrem Habitus und eng mit ihrem Körper verbunden, mit ihrem Gestus. Einige Wörter, die ich häufig benutze, hätte meine Mutter nicht oder nur ungefähr verstanden, und wenn ich mir nicht die Mühe gemacht hätte, bis zu einem gewissen Grad wieder in die Sprache zu wechseln, die ich lange hinter mir gelassen hatte, wäre sie zweifellos verunsichert gewesen von den Schachtelsätzen und komplizierten grammatischen Konstruktionen, die ich im Berufsleben, im Freundeskreis und generell im Alltag verwende. Sprache transportiert Gewalt, und das selbst in den banalsten Interaktionen.«

 

[aus: Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024]

DAS HARTE LEBEN EINER MUTTER

von Alexander Solloch

 

Wo komme ich her? Wie markiert mich meine soziale Herkunft, wie gehe ich mit meiner Herkunftsscham um? Was passiert, wenn ich »Verrat« an meiner Klasse übe, indem ich aufsteige in eine »höhere« Schicht? Das sind wesentliche Fragen der Gegenwartsliteratur – nicht der deutschsprachigen, hierzulande wird der Begriff »Klasse« mit sehr spitzen Fingern angefasst. In Frankreich hingegen geht es immer um diese Fragen, in allen wichtigen Werken von Nicolas Mathieu, Annie Ernaux, Olivier Adam, Édouard Louis und Didier Eribon. Dessen Buch »Rückkehr nach Reims«, eine Art Selbsterforschung, war ein gewaltiger Erfolg – nun setzt der Soziologe diese Studie gewissermaßen fort mit einem Buch über seine Mutter: »Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben«.

 

»So oft im Morgengrauen auf den Beinen, so viele Wäscheberge, so viele Einkäufe, so viele gekochte Mahlzeiten, so viele Lebens- und Überlebensstrategien, so viel erlittene Scham (…)« Worte des Schriftstellers Patrick Chamoiseau, die, sagt Didier Eribon, auch er selbst über seine Mutter hätte schreiben können: »(…) so viele flüchtige Freuden, so viel Scheitern und so viele Erfolge (…) die im Lärm der Tage nie gefeiert worden sind! Wer wird sich an all das erinnern?«

Ich erinnere mich, sagt Eribon, und ich werde erinnern, damit etwas bleibt von diesem langen, schwierigen, skandalös harten Leben – dem Leben einer Frau, die immer nur geschuftet hat: als Dienstmädchen, Putzfrau und Fabrikarbeiterin. Nach dem Tod des gehassten Vaters kann sich Didier Eribon wieder seiner Mutter annähern. Sie ist die Einzige in der Familie, die sich mit seinem »Klassenverrat« – dem Übertritt ins akademische Milieu, seiner Intellektualität, seiner Homosexualität – halbwegs arrangieren kann. Mutterliebe. Und wohl auch, alles in allem, dem heftigen Drang, sich abzugrenzen, zum Trotz: Sohnesliebe. Wenn sie sich nichts zu sagen haben, können sie immer noch gemeinsam fernsehen.

 

Meine Mutter hatte eine Schwäche für Formel 1 und konnte den über die Rennstrecke rasenden Autos stundenlang zusehen. Verwundert fragte ich: »Interessiert dich das wirklich so sehr?« Darauf sie: »Ja! Ich wäre gern Rennfahrerin geworden.« Ein Traum, der an den tausend Begrenzungen der Realität schmerzhaft zerschellt. Ohne Geld, ohne formale Bildung, ohne akzeptablen familiären Hintergrund war der Mutter von Anfang an nichts als Plackerei vorherbestimmt. Nie gönnt sie sich etwas außer dieser kleinen Rennfahrer-Träumerei.

Sie ist 87, als ihre – ansonsten untereinander verfeindeten – Söhne sie gemeinsam im Pflegeheim unterbringen. Sohn Didier versucht, sie zu besänftigen: »Du wirst sehen, es wird Dir gut ergehen«, sagt er, unbewusst eine Schnulze von Jean Ferrat zitierend.

 

Später schämt er sich dafür, denn nichts wird gut, erinnert sich Eribon bei der Buchvorstellung in Paris: »Sie hat sehr schnell abgebaut, hat mir nachts auf den Anrufbeantworter gesprochen, es gehe ihr schlecht, man misshandele sie, es sei ihr verboten zu duschen. Ich habe dann die Ärztin im Pflegeheim angerufen, und die hat gesagt: ›Nein, das Duschen ist ihr nicht verboten; aber um sie aufzurichten und ins Badezimmer zu bringen, brauche ich zwei Pflegekräfte! Mir fehlt das Personal, deshalb geht das nur einmal pro Woche.‹ Als die mir das sagte, wollte ich laut aufschreien: Das kann doch gar nicht sein!« Sieben Wochen später ist die Mutter tot, gestorben an Verlassenheit in der fürchterlichen Pflege-Einöde, in der die Alten keine Stimme mehr haben.

 

Dieses Buch ist Eribons Aufschrei: berührend und aufrüttelnd vor allem dann, wenn er es schafft, sich vom Soziologenjargon zu lösen. Dann wird deutlich: Jedes Leben verdient, erzählt zu werden; jedes Leben und sein darin verborgener unerfüllter Traum. Sie fand Zuflucht im frenetischen Tanz der Rennwagen, den sie voller Inbrunst verfolgte. Reglos in ihrem Sessel, mit der Fernbedienung in der Hand, saß sie am Steuer eines Rennautos.

 

[aus: NDR Kultur, 11.03.2024]

»Das große Drama des Blicks. Nicht nur wir haben die Macht unsere Mitmenschen anzusehen, das heißt, über sie zu urteilen, sie zu konstituieren, ihr Sein und ihre Identität zu definieren; auch sie sehen uns an und haben somit die Macht, unsere Wahrheit zu bestimmen, ungeachtet dessen, dass wir gern die Definitionshoheit über uns selbst und über die Wahrheit unseres Gegenübers hätten. Aus diesem Kreis kann man nicht ausbrechen  – ›die Hölle sind die anderen‹. Angesehen werden (oder das Gefühl haben, dass man angesehen wird) heißt zum Objekt gemacht werden (oder das Gefühl haben, dass man zum Objekt gemacht wird). Daraus gibt es kein Entkommen. Selbst im Altersheim nicht, im Gegenteil. Der ›Blick des Anderen‹ in seiner fast vollkommenen Reinheit, frei von allen gesellschaftlichen Versteckspielen, Masken und Ausflüchten, aufs Einfachste reduziert, offenbart uns schonungslos die nackte Wahrheit: Er sagt uns, wer wir sind, und damit auch, wer wir in Zukunft sein werden. Der andere sieht Dinge, die er nicht sehen soll, die man gern vor ihm verbergen würde: den Körper, das Gesicht, die Bewegungen, das Auftreten. (…) Er sieht nicht nur all das, er entscheidet auch, was er sieht und was davon er im Gedächtnis behält. Jetzt verstehe ich, warum ein Blick untrennbar mit dem Gefühl der Scham verknüpft ist.«

 

[aus: Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024]

IMPLOSIVE INTIMITÄT: SCHAM UND STOLZ

von Eva Illouz

 

Scham ist das Gefühl, in den Augen anderer negativ beurteilt, herabgesetzt und abgelehnt zu werden. Wer sich schämt, fühlt sich oft »klein«. Stolz ist die Zufriedenheit mit dem, was man ist oder tut, so wie es sich in der Wertschätzung der anderen widerspiegelt. Wo Scham den Körper zusammensacken lässt, bläst Stolz ihn auf und macht ihn größer. (…) Scham, könnte man sagen, ist ein informeller, mächtiger und unsichtbarer emotionaler Mechanismus, der das Individuum mit der Gemeinschaft verbindet. (…)

 

Jean-Paul Sartre hatte ein anderes Verständnis von Scham. (…) Die Scham markiert hier ein gespaltenes Bewusstsein, weil sie impliziert, dass man sich selbst durch die Augen einer anderen Person sieht. Ich werde mir der moralischen Bedeutung meines Handelns bewusst, wenn mir bewusst ist, dass ich angeschaut werde. Die Scham entsteht mit dem Moralbewusstsein. (…) Wie Sartre behauptet, verrät Scham den schlichten Umstand, dass meine Subjektivität nicht die meine ist, sondern durch die Menge von Aneignungen, Einschränkungen und Definitionen bestimmt wird, die andere mir auferlegen können. Das gilt besonders, wenn man einer ausgegrenzten Minderheit angehört. Juden – oder Frauen oder Schwule oder Araber in westlichen Ländern – sind deshalb eine von den anderen gesonderte Kategorie, weil sie dem Blick der anderen ausgesetzt sind, die über die symbolischen Mittel gebieten, zu bestimmen, wer sie sind. Das, sagt uns Sartre, verwandelt sie sich selbst gegenüber in ein Objekt. (…)

Die Scham bildet die Grundlage für eine negative Sozialontologie. Auch der französische Essayist Didier Eribon hat mit »Retour à Reims« (»Rückkehr nach Reims«) ein Memoir verfasst, in dem er beleuchtet, worum es hier geht. In bewusst Sartre‘scher Manier erörtert er die Scham als etwas, das an seinem Wesen haftet: »Im Grunde schrieb die gesamte Kultur um mich herum ›pedé‹, ›tapette‹, ›tantouze‹, ›tata‹ oder irgendein anderes der Schmähworte, deren bloße Erwähnung in mir noch heute die nie vergessene Angst wachruft, die sie mir eingejagt haben, die Verletzungen, die sie mir zugefügt haben, und das Schamgefühl, das sie in meinen Geist gebrannt haben. Ich bin ein Produkt der Beschimpfung. Ein Sohn der Schande.« Die Scham ist ein Produkt der Macht, die Wörter und Klassifikationen haben, um uns festzulegen. (…)

 

Zumindest bis Anfang des 21. Jahrhunderts waren Homosexuelle ein Musterbeispiel dafür, wie die Scham Identität organisiert. Nur eine gezielte Arbeit am eigenen Selbstbewusstsein und an der Verweigerung repressiver Normen ermöglichte es einigen von ihnen, sich einer solchen, durch Abscheu und Scham aufgezwungenen Identität zu entwinden. (…) Diese Erörterungen weisen auf eine verstörende Eigenschaft der Scham hin. Als ein Gefühl der Unwürdigkeit, das einen dazu bringt, sich verstecken und verschwinden zu wollen, kann Scham auch entstehen, wenn man gar nichts Falsches getan und keinen moralischen Maßstab verletzt, sondern es lediglich nicht vermocht hat, eine bestimmte Art von Person zu sein. (…) Didier Eribons autobiografische Reflexionen verdeutlichen dies. Er fragt sich, warum er, als er seine Identität als schwuler Mann akzeptieren konnte, trotzdem nicht in der Lage war, seinen Freunden und der Welt zu sagen, dass er aus einer armen Arbeiterfamilie kommt. Diese nachdenkliche, selbstbewusste Darstellung der Lügen, die er zum Zwecke seiner Selbstdarstellung ersann, erlaubt es ihm, die Rolle zu verstehen, die Klassenscham dabei spielte. Ziemlich am Anfang seines Buches schreibt er: (…) »Warum bin ich, der ich so große soziale Scham empfunden habe, Herkunftsscham, wenn ich in Paris Leute aus ganz anderen sozialen Milieus kennenlernte und sie über meine Klassenherkunft entweder belog oder mich zu dieser nur in größter Verlegenheit bekannte, warum also bin ich nie auf die Idee gekommen, dieses Problem in einem Buch oder Aufsatz anzugehen? Sagen wir es so: Es war mir leichter gefallen, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale.«

Scham hält die Beschämten durch einen mächtigen Mechanismus unter Kontrolle, den des Schweigens. Deshalb glaubt die beschämte Person, (…) dass sie vollkommen alleine ist. Weil Scham den Blick der anderen nicht ertragen kann, weil sie eine Bewegung des Versteckens ist, setzt sie auch eine Spirale des Schweigens in Gang. Sie ist somit eine überaus effektive Form der Kontrolle. So beschreibt Betty Friedan, wie Frauen, die auf erstickende Weise in einem vorstädtischen Lebensstil gefangen sind, sich dafür schämen, dass sie sich deswegen schlecht fühlen. »Andere Frauen waren mit ihrem Leben zufrieden, dachte sie. Was für eine Frau war sie, wenn sie beim Bohnern des Küchenbodens diese mysteriöse Erfüllung nicht empfand? Sie schämte sich so, ihre Unzufriedenheit einzugestehen, dass sie nie erfuhr, wie viele andere Frauen sie teilten.« Die soziale Macht der Scham liegt in dem Schweigegebot, das sie imitiert. Betty Friedans Buch »Der Weiblichkeitswahn« war 1963 deshalb eine solche Sensation, weil es die Scham als Rohmaterial benutzte und in öffentliche Rede verwandelte. Mit dem Erfolg der weltweiten #MeToo-Bewegung verhielt es sich ähnlich. Sie war ein gleichermaßen emotionaler und politischer Akt, der die mit sexueller Nötigung verbundene Spirale des Schweigens durchbrach.

Damit kann ich nun eine Hypothese anbieten, um zu erklären, warum Eribons homosexuelle Scham leichter zu überwinden war als seine Klassenscham. Meines Erachtens liegt dies daran, dass er in den 1980er Jahren erwachsen zu werden und ein Intellektuellenleben in Paris zu führen begann, als sich die Schwulenbewegung um zwei zentrale Gegenmittel zur Scham konstituierte: öffentliche Sichtbarkeit und Stolz. Auch die Aids-Krise spitzte die Ausrichtung der Homosexuellengemeinschaft zu, die sich der doppelten Stigmatisierung ihrer sexuellen Präferenz und der Krankheit verweigerte. Wie die Schwulenbewegung schnell verstand, waren öffentliche Rede und öffentlicher Kampf die einzigen angemessenen politischen Reaktionen und Widerstandskräfte gegen ihre Beschämung als Form sozialer Kontrolle und sozialer Gewalt. Indem verkappte Identitäten öffentlich gemacht werden, verwandelt sich Scham in Stolz. (…) Um die Spirale von Scham und Schweigen zu durchbrechen, muss Scham durch Aktionen, die in manchen Fällen soziale Bewegungen auslösen können, in Stolz verwandelt werden. Das ist die politische Dimension der Emotion des Stolzes.

 

[aus: Eva Illouz: Explosive Moderne, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2024.]

»Dies ist die fundamentale politische Frage: Wer spricht? Wer kann das Wort ergreifen? Und wenn dieser elementare politische Akt so vielen Menschen unzugänglich ist, Menschen, die zu einer der unterdrücktesten, entrechtetsten, verletzlichsten gesellschaftlichen Gruppe gehören, ist es dann nicht Aufgabe von Autor*innen, Künstlern und Intellektuellen, über sie und für sie zu sprechen, sie sichtbar zu machen und die Leute zu ›zwingen‹, um es mit Simone de Beauvoir zu sagen, ihnen zuzuhören? Wenn alte Menschen keine Stimme haben oder sogar nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können  – sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?«

 

[aus: Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024]