»Jeder stirbt für sich allein«

Nach dem Roman von Hans Fallada
In einer Fassung von Mathias Spaan

Anna Quangel Agnes Mann
Otto Quangel Marco Matthes
Trudel Baumann, Ärztin, Beamtin Charlotte Wollrad
Eva Kluge Nathalie Thiede
Enno Kluge Volker Muthmann
Emil Barkhausen, Obergruppenführer Prall Leonard Wilhelm
Kommissar Escherich Daniel Mühe
Frau Rosenthal Andrea Strube

 

Regie Mathias Spaan
Bühne Anna Armann
Kostüme Josephin Thomas
Musik Nico-Alexander Wilhelm
Dramaturgie Theresa Leopold
Regieassistenz Justin-Silvan Middeke
Soufflage Carolin Kahnt
Inspizienz Uta Knust

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Produktionsleitung (in Vertretung) Henryk Streege / Technische Einrichtung Marco Wendt / Beleuchtung Markus Piccio / Tontechnik Julian Wedekind (Leitung), Bernd Schumann (Einrichtung)/ Requisite Sabine Jahn (Leitung) / Patricia Opitz (Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Charlen Middendorf-Tinney, Michelle Piehler (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal Eike Hansen / Schlosserei Robin Senger, Jonas Hagenow / Dekoration Regina Nause, Axel Ristau / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer ca. 1 Stunde und 45 Minuten, keine Pause

 

Aufführungsrechte Felix Bloch Erben GmbH & Co. Kg, Berlin

 

Probenfotos Thomas Müller

 

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.

Falladas Inspiration

Elise, 1903 in Stendal geboren, und Otto Hampel, 1897 in Posen geboren, waren einfache Leute – Elise arbeitete als Haushaltshilfe und Näherin, während Otto bei den Berliner Verkehrsbetrieben beschäftigt war. Sie lebten in Berlin Wedding und waren über viele Jahre dem NS-Regime treu. Doch der Tod von Elises Bruder, 1940 in Frankreich, stellt einen Wendepunkt dar im Leben des Ehepaares: Nun endlich begannen die Hampels das NS-System zu durchschauen, nun wollten sie ihren wachsenden Hass in aktiven Widerstand umwandeln und begannen damit Postkarten mit Botschaften des Widerstandes zu schreiben, wie z.B.:

 

Freie Presse!

Die Hitlerei bedeutet in der Welt,

gewalt geht vor Recht!

Bleibt für die Ewigkeit ungerecht,

Und bringt dem Volke nie einen

Frieden!

Vertraue auf dich, nicht der eingeschlichenen Hitler Bande!

 

(Rechtschreibfehler wurden aus dem Original übernommen.)

Handschriftlich, aber in Druckbuchstaben, rechneten sie vor allem mit Hitler ab. Diese Postkarten steckten sie vom September 1940 bis September 1942 in Briefkästen in Wedding, Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg. Am Ende waren es über 200 Postkarten. Sie forderten darin auf, sich nicht an den Straßensammlungen der Nationalsozialisten zu beteiligen, die Teilnahme am Krieg zu verweigern und Hitler zu stürzen.

 

Das Ehepaar Hampel wird schließlich denunziert und am 20. Oktober 1942 verhaftet. Vor der Polizei erklärt Otto Hampel, »glücklich bei dem Gedanken« gewesen zu sein, gegen Hitler und sein Regime protestieren zu können.

In der Anklageschrift des Amtsgerichts Berlin ist zu lesen: »[…] klage ich an, in Berlin in den Jahren 1940 bis 1942 fortgesetzt und gemeinschaftlich durch dieselbe Handlung 1. das hochverräterische Unternehmen, die Verfassung des Reiches mit Gewalt zu ändern, vorbereitet zu haben, wobei die Tat auf Beeinflussung der Massen durch Herstellung und Verbreitung von Schriften gerichtet war, 2. es unternommen zu haben, im Inland während eines Krieges gegen das Reich der feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder der Kriegsmacht des Reiches einen Nachteil zuzufügen, 3. öffentlich dazu aufgefordert oder angeregt zu haben, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen gesucht haben. Die Angeschuldigten haben von September 1940 bis zu ihrer Festnahme annähernd 200 Postkarten oder Briefe mit hochverräterischem und wehrmachtsfeindlichem Inhalt in Häusern des Berliner Nordens und Westens niedergelegt, um die Bevölkerung kommunistisch zu zersetzen.«

 

Otto und Elise Hampel werden am 22. Januar 1943 vom »Volksgerichtshof« wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zum Tode verurteilt und am 8. April 1943 in Plötzensee ermordet.

 

Basierend auf dieser wahren Begebenheit schrieb Hans Fallada den Roman »Jeder stirbt für sich allein« Ende 1946 innerhalb von einem Monat.

Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen

Hans Fallada, eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, wird am 21. Juli 1893 in Greifswald als Sohn des Landrichters Wilhelm Ditzen und dessen Frau Elisabeth geboren. Die Familie zieht nach Berlin und später nach Leipzig. Dort unternimmt Fallada noch während der Schulzeit mit einem Freund einen als »Duell« getarnten Doppelsuizidversuch. Der Freund stirbt, Fallada überlebt schwer verletzt. Ohne Schulabschluss kommt er für zwei Jahre in eine Nervenheilanstalt. Nach der Entlassung arbeitet er ab 1913 in der Landwirtschaft, meldet sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, wird aber wegen seiner Alkohol- und Morphiumsucht für untauglich befunden. Bis 1919 kommt er immer wieder in Entzugskliniken, eine dauerhafte Heilung erreicht er aber nicht. Er beginnt zu schreiben, 1920 veröffentlicht er den expressionistisch beeinflussten Debütroman »Der junge Goedeschal«, drei Jahre später das Werk »Anton und Gerda«. Er arbeitet wieder in der Landwirtschaft, nun in Mecklenburg. Um seine anhaltende Sucht zu finanzieren, begeht Fallada mehrere Betrugsdelikte, die ihn 1923 für Monate und ab 1925 für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis Neumünster bringen. Diese Erfahrung geht 1934 in den Roman »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst« ein. Nach der Haft heiratet er 1929 in Hamburg Anna »Suse« Issel, mit der Lebens- und Arbeitsfreude in sein Leben zurückkehren. Aus der Ehe stammen drei Kinder. Fallada arbeitet nun als Lokalredakteur in Neumünster. 1930 stellt ihn der Berliner Rowohlt-Verlag an, er schreibt wieder Romane. Mit dem Kleinstadt- und Landvolkroman »Bauern, Bonzen und Bomben« stellt sich 1931 auch der Erfolg ein. »Kleiner Mann – was nun?« von 1932 kommt auf 45 Auflagen und 20 Auslandsausgaben. Mit Frau und dem ersten Kind lebt der Autor bei Berlin, sein Erfolg ermöglicht es, ein Landgut in Carwitz zu kaufen. Vor dem geplanten Umzug nach Carwitz denunziert ihn ein Mieter seines Hauses wegen angeblich staatsfeindlicher Gespräche. Er kommt für elf Tage in Fürstenwalde in Haft.

Nach politischer Kritik verfasst Fallada unkritische Unterhaltungsliteratur, auf Geheiß des Propagandaministeriums schreibt er den Roman »Der eiserne Gustav« 1938 sogar um. Während des Zweiten Weltkrieges entstehen »Kleiner Mann, großer Mann – alles vertauscht« (1940), »Der unbeliebte Mann« (1940) und die Erinnerungsbücher »Damals bei uns daheim« (1942) und »Heute bei uns zu Hause« (1943). Jedem größeren Werk folgt ein Sanatoriums-Aufenthalt. Schlaflosigkeit und Morphium-Abhängigkeit begleiten den selbstzerstörerischen Schaffensprozess seiner Werke. 1944 wird seine erste Ehe geschieden, nachdem er seine Frau mit einer Pistole bedroht hat. Deshalb wird er auch vorübergehend in die Landesanstalt Strelitz eingewiesen. Dort lernt er die ebenfalls suchtkranke, fast 30 Jahre jüngere Ursula Losch kennen. Im Februar 1945 heiraten beide. Seine letzten Lebensjahre verbringt Fallada häufig schwer krank in Berliner Krankenhäusern. Am 5. Februar 1947 stirbt er an Herzschwäche in Berlin. Kurz zuvor vollendet er den 1949 erschienenen Roman »Jeder stirbt für sich allein« über die authentische Geschichte eines Arbeiter-Ehepaars in Berlin, das im Kampf gegen das Hitler-Regime sein Leben lassen muss.

»Jeder stirbt für sich allein« als Weltbestseller

Die genuin literarische Gestaltung gegenüber dem realen Fall in den Gestapo-Akten betont das Vorwort, das Fallada dem Roman voranstellt, datiert auf den 26. Oktober 1946: Die Darstellung entspreche den Realien nur »in großen Zügen – ein Roman hat eigene Gesetze und kann nicht in allem der Wirklichkeit folgen«. Der Autor habe die Quangels so geschildert, »wie sie ihm vor Augen standen. Sie sind also zwei Gestalten der Fantasie, wie auch alle anderen Figuren dieses Romans frei erfunden sind.«. Legitimiert sieht sich der »Verfasser« zu dieser Anverwandlung, weil er »‚die innere Wahrheit‘ des Erzählten« erfassen wollte, »wenn auch manche Einzelheit den tatsächlichen Verhältnissen nicht ganz entspricht.«  Er verteidigt damit, ein »so düsteres Gemälde« entworfen zu haben, »aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.« »Jeder stirbt für sich allein« erzählt auf Basis der Gestapo-Akten, die Fallada übrigens bereits in seinem »sachlichen Bericht« über den doch vorhandenen Widerstand der Deutschen gegen den Hitlerterror durchaus fiktional ausgestaltete, die Geschichte von Anna und Otto Quangel. Nachdem ihnen mitgeteilt wird, dass ihr Sohn im Krieg gefallen sei, legen sie Postkarten in Wohnhäusern aus, mit denen sie das Regime kritisieren. »Die meisten Menschen laufen dem Erfolg nach. Ein Mann wie Otto Quangel, der mitten im Erfolg aus der Reihe tritt, ist eine Ausnahme.«, so Fallada. Um das Ehepaar »gruppiert« er in »bewährter Manier« ein Ensemble geläufiger Rollen bzw. »Typen«.

Der zentrale gemeinsame Aspekt in dieser »group novel« ist die Angst: vor der Verfolgung und Denunziation und schließlich vor der Verhaftung, die vor den Volksgerichtshof bis zur Hinrichtung führt, die der letzte Teil des Romans eindringlich darstellt. »Jeder ein Denunziant« betitelt Hoven (2011) seinen Beitrag, der in einer Kapitelüberschrift das zentrale Darstellungsinteresse dieses »Soziogramm[s] eines Terrorstaates« aufgreift: »Heute kämpft jeder für sich allein – und gegen alle« (Hoven 2011, 70). In »Der Alpdruck« hatte Fallada im vierten Kapitel »Die Herren Nazis« geschrieben: »Deutsche gegen Deutsche, jeder für sich allein, immer weiter gegen die ganze Welt und alle ankämpfend«. Wie sonst bei Fallada ist es neben der Angst vor der Diktatur aber auch die Angst um die eigene Existenz und die Angst davor, von anderen über den Tisch gezogen zu werden, die das Verhalten der Figuren bestimmt. So geht es auch in »Jeder stirbt für sich allein« um zwischenmenschliche Verhältnisse, jetzt in der Diktatur, in der jeder jeden taxiert, bespitzelt und verdächtigt, eine bestimmte Haltung zum NS einzunehmen.

Ein bezwingendes Panorama über Lebensverhältnisse im Dritten Reich

In »Jeder stirbt für sich allein« spielt Fallada von Beginn an seine Fähigkeit aus, das Leben der »kleinen Leute« in allen Facetten, auch der gemeinen Normalität in den alltäglichen Verstrickungen und dem widersprüchlichen Handeln im Spitzelsystem des Nationalsozialismus zu schildern. Wie auch immer es sich um eine Auftragsarbeit für den Kommunisten Johannes R. Becher handelt: Die Autonomie des Texts ist davon aufgrund der multiperspektivischen Mitsichten auch hier, wie bereits bei den Nazi-Auftragsarbeiten, nicht berührt. Fallada betont selbst in dieser Zeit, keine Tendenzromane schreiben zu können, so dass »Jeder stirbt für sich allein« im Kern keinen Widerstandsroman im Sinne der Ost-Propaganda in der SBZ bietet. In seinem breiten Panorama von Lebensentwürfen im Alltag des Dritten Reichs knüpft er an die Erzählverfahren von »Wolf unter Wölfen« an. Wie in all seinen Romanen ist Falladas Erzählen auch hier ganz nahe an den Figuren, indem es unmerklich in ihre Gedanken und Gefühle schlüpft, so dass der Leser unvermittelt an ihren Beobachtungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Kalkülen teilhat, ohne dass ein Aspekt oder eine der Figurenperspektiven besonders ausgezeichnet würde – selbst wenn im Zentrum das Schicksal des Ehepaars Quangel bis zur brutalen Hinrichtung nach dem Urteil des Volksgerichtshofs steht.

Man folgt dieser Darstellung atemlos, weil die gleitenden Übergänge zwischen den Sichtweisen von Figuren mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Haltungen den Leser fast schon gewaltsam verstricken. In »Jeder stirbt für sich allein« ist Fallada in dieser Textur der Verstrickung im Unscheinbaren ein Meister der beiläufigen Mitteilung. An kleinsten Gesten wird der Zwang zur permanenten Taxierung der Umwelt im Spitzelsystem des Nationalsozialismus plausibel. Umstandslos lassen sich daran die alltäglichen Probleme um Ehe und Familie anschließen. Die rührende Melodramatik der Gestaltung ist im Vergleich zu »Kleiner Mann – was nun?« jedoch erkennbar zurückgenommen. Immer wenn Falladas Texte eine Vielzahl von Figuren vorführen, von »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931) bis zu »Jeder stirbt für sich allein« (1947), dann veranschaulichen sie damit ein breites Spektrum von verschieden kombinierten Verhaltensoptionen, die nur graduell voneinander unterschieden sind, eine Schwarz-Weiß-Zeichnung aber nicht zulassen. In der multiplen internen Fokalisierung werden nicht nur die Protagonisten, sondern auch Nebenfiguren, ja erklärte Antagonisten in der Mitsicht empathisch und damit partiell sympathisch dargestellt.

Passagen szenischer Darstellung, in denen sich die Figuren ohne Erzählereingriff ausschließlich selbst präsentieren, tragen ebenso zum Eindruck moralischer Indifferenz bei wie die erlebte Rede, in der die Unterscheidung zwischen Erzählstimme und Figurenrede oft unmöglich ist. In gleitenden Übergängen zwischen den Perspektiven entsteht ein Panorama aus Figuren verschiedener Schichten, Wertehaltungen und Weltanschauungen, bei dem somit auch die Nazis (mit Ausnahmen aber wie z. B. Feisler) nicht moralisch abqualifiziert werden. Vom unmerklichen Hinein in ihre Beobachtungen und Überlegungen zum ebenso unmerklichen Heraus und Hinein in eine andere Figur erzählt der Roman von Menschen »wie du und ich«: mit ihren Sorgen und Nöten, ihren Kalkülen, Interessen, Fiesheiten und schönen Seiten, so dass sie sich von den auf den ersten Blick moralisch höher gestellten Figuren wenig unterscheiden. Auch in »Jeder stirbt für sich allein« spielt Fallada seine Könnerschaft in der Vermittlung seiner Figuren über mehrere hundert Seiten ohne Anschlussfehler in der Gestaltung aus, denn auch hier kennt der »Menschensammler« seine Figuren in allen Fasern ihres Wesens. Das ist der Grund für das Bezwingende seines Panoramas über Lebensverhältnisse in der Endphase des Dritten Reichs.

 

Textauszüge aus: Hans-Fallada-Handbuch, herausgegeben von Gustav Frank und Stefan Scherer; S.473-491;