»Wir Perser«

Ivana Sokola

 

Eine Vorahnung nach Aischylos

 

Uraufführung

 

Atossa Andrea Strube / Xerxes Paul Trempnau / Perser*innen Jenny Weichert (Chorführerin); Marco Matthes, Nathalie Thiede, Paul Trempnau, Tara Helena Weiß, Leonard Wilhelm Bot*innen Marco Matthes, Nathalie Thiede, Tara Helena Weiß, Leonard Wilhelm

 

Regie Branko Janack / Bühne und Kostüme Moïra Gilliéron / Musik und Sounddesign Max Nübling / Dramaturgie Stephanie Wedekind / Regieassistenz Justin-Silvan Middeke / Soufflage Carolin Kahnt / Inspizienz Uta Knust / Regiehospitanz Karoline Resner

 

Technische Leitung Marcus Weide / Produktions- und Werkstattleitung Lisa Hartling / Produktionsleitung (in Vertretung) Henryk Streege / Technische Einrichtung Marco Wendt / Beleuchtung Michael Lebensieg / Tontechnik Julian Wedekind (Leitung), Frank Polomsky, Bernd Schumann (Einrichtung) / Requisite Sabine Jahn (Leitung) / Johannes Frei (Einrichtung) / Maske Frauke Schrader (Leitung), Mats Marcinkowski, Charlen Middendorf-Tinney (Einrichtung) / Kostümausführung Ilka Kops (Leitung), Heidi Hampe, Stefanie Scholz / Malsaal  Eike Hansen / Schlosserei  Robin Senger, Jonas Hagenow/ Dekoration  Regina Nause, Axel Ristau  / Tischlerei Maren Blunk

 

Aufführungsdauer ca. 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Aufführungsrechte Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG, Berlin

Probenfotos Thomas Aurin

Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht gestattet.

»Die bekannten Stoffe sind brüchig geworden

Den großen Erzählungen glaubt niemand mehr

Die herzerschütternden Appelle sind verstaubt

Die Leisen, Zärtlichen erreichen kein Ohr in diesen Stürmen.

Stets geht es um das Tote, Vergangene

Dem ich neues Leben geben soll.

Ein Ding der Unmöglichkeit

Wer dabei war, hat es selbst gesehen

Und wird mich als ungenügend befinden.

So bin ich der Präparator

Hüllenausstopferin

Lehre euch:

Die Anatomie des Erzählens.

Was ich versuche, ist:

Nicht weniger als die Wiedererweckung der Toten.

Eine ganze Armee an Vergangenen.

Gespenster, die euch ersuchen

Um Mitleid betteln

Und Eins nur sagen:

Glaubt mir

Was auch immer.«

[aus: Prolog einer Botin in »Wir Perser« Eine Vorahnung nach Aischylos]

»Sie befinden sich in einem Schwebezustand.«

Interview der Dramaturgin Stephanie Wedekind mit Autorin Ivana Sokola zur Uraufführung von »Wir Perser« Eine Vorahnung nach Aischylos

Liebe Ivana, wie kam es dazu, dass du dich entschieden hast, eine Überschreibung von »Die Perser« nach Aischylos zu machen? Was an dem Stoff hat dich besonders fasziniert?

 

»Die Perser« gilt als das älteste erhaltene Stück der Weltgeschichte – damit beginnt das Theater, zumindest, soweit wir heute wissen. Mich hat die Tatsache fasziniert, dass Aischylos in der Seeschlacht gekämpft hat, die er im Stück beschreibt – allerdings auf griechischer Seite. Das Stück zeigt aber Mitleid mit den Unterlegenen: Es geht um das Verstehen des Gegners, nicht um eine Entmenschlichung. Vor allem aber zeigt »Die Perser« ein Volk, die Reste eines Volkes, abgeschnitten von der Welt. Sie befinden sich in einem Schwebezustand: Sind die Kämpfenden tot oder siegreich? Angesichts unserer heutigen multiplen Krisen schien mir dieser Zustand sehr nachvollziehbar – niemand weiß, was zu glauben ist, wem man trauen kann, wie die Zukunft aussieht. Die Herrschenden geben vor, das Beste für alle zu wissen, aber eigentlich sind sie genauso ratlos.

In deinem Stück tauchen, abweichend vom Original, viele Bot*innen auf, die sich in den Details der Geschichte vom Untergang des Perserheeres überbieten und immer mehr von dem entfernen, was gewesen sein könnte. Was möchtest du mit dieser Fortschreibung erzählen?

Ich arbeite auch als Journalistin und war zu Beginn des Ukraine-Krieges viel am Newsdesk der ZEIT im Einsatz – habe also für den Liveblog geschrieben, tagesaktuelle Entwicklungen berichtet, viele Bilder und andere Quellen ausgewertet. Die Wirklichkeit des Krieges hat sich nach und nach zusammengepuzzelt – und ist dennoch so schwer zu begreifen, geschweige denn im nächsten Schritt zu vermitteln. Mit den vielen Bot*innen wollte ich einerseits deutlich machen, dass es oftmals nicht die eine Wahrheit gibt, dass, sobald man Ereignisse nacherzählt, sie immer geformt werden, immer eine bestimmte Perspektive wiedergeben. Und dann ist natürlich im nächsten Schritt die Frage, was die Entscheidenden damit machen, wenn sie verschiedene Möglichkeiten von Wahrheit zur Verfügung haben. Die Kategorien Lüge, Wahrheit und Fiktion lösen sich immer weiter auf.

In der Zwischenzeit hat die Gesellschaft der Daheimgebliebenen einen neuen Staat gegründet, die Utopie eines Matriarchats scheint Wirklichkeit zu werden. Doch dann taucht Xerxes wieder auf und alles gerät ins Wanken. Welches Gedankenspiel steckt dahinter?

 

Keine Ordnung ist sicher. Xerxes kommt zurück und beansprucht den Thron – schließlich ist er der Sohn, sein Vater war König, seine Mutter hat ihn seiner Ansicht nach nur vertreten, als er im Krieg war. Atossa hingegen hat endlich den Staat so gestalten können, wie sie es sich schon lange vorgestellt hat. Sie sieht nicht ein, diesen Platz nun zu räumen. Dieses Ringen um Macht kann nur in noch mehr Gewalt enden. Ob der eine Staatenentwurf besser oder schlechter als der andere ist, das wollte ich gar nicht unbedingt entscheiden. Interessant fand ich, diese Herrscherfamilie in ihren Ansprüchen radikal aufeinandertreffen zu lassen.

Du hast dem Stück ein Zitat der Schriftstellerin Ursula Krechel vorangestellt »Schreiben ist wie Wasser, ganz durchsichtig, manchmal voller Keime, die man nicht gleich bemerkt.« Was bedeutet dieses Element für die Geschichte?

 

Ich habe dieses Zitat aus Ursula Krechels Roman »Sehr geehrte Frau Ministerin« erst entdeckt, als ich mit dem Stück schon recht weit war. Das Buch behandelt Mutter-Sohn-Beziehungen, in denen ich meine Figuren Atossa und Xerxes wiedererkannt habe. Nicht zuletzt verschlingt das Wasser schon im Original bei Aischylos das Perserheer, das ist auch bei mir der Fall. Es entwickelt eine monströse Kraft, wie auch die Worte, die in meiner Version dem Perservolk vielleicht noch mehr schaden als alle Feinde. Wasser ist lebensnotwendig, kann aber tödlich sein. So ist es vielleicht auch mit den Worten.

Das Thema des Erbes durchzieht ebenfalls den Text: Sowohl das Erbe innerhalb der persischen Königsfamilie, als auch das allgemeine Erbe der Perser als Volk. Geht es für dich auch um ein gesamtgesellschaftliches Erbe?

 

Absolut geht es auch darum! Die Perser*innen, besonders die, die nicht in den Krieg gezogen sind, müssen sich auf einmal fragen – was wollen wir eigentlich von diesem Staat, was für eine Zukunft können wir uns überhaupt vorstellen? Was hinterlassen wir? Wenn wir von Erbe reden, scheint die Lage manchmal so unausweichlich: Der Umwelt wird es schlechter gehen, die Reichen werden reicher werden, die Mächtigen bleiben an der Macht. Aber was, wenn wir uns doch entscheiden, etwas zu ändern?

»Wenn wir durch das Erzählen die Macht haben

Die Welt neu zu erfinden –

Wieso tun wir das nicht?«

[aus: Epilog einer Botin in »Wir Perser« Eine Vorahnung nach Aischylos]

SUSAN SONTAG: LASSEN WIR UNS VON GRAUSIGEN BILDERN HEIMSUCHEN

 

Wer eine Hölle als das bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholen und das Höllenfeuer eindämmen kann. Trotzdem scheint es schon an sich positiv zu sein, wenn man die eigene Wahrnehmung schärft und sich immer wieder klarmacht, wie viel durch menschliche Bosheit verursachtes Leiden es in der Welt gibt, in der wir mit anderen leben. Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf soviel Unwissenheit oder Vergesslichkeit. Es gibt inzwischen einen umfangreichen Bestand an Bildern, die es schwieriger machen, in dieser ethischen Mangellage zu verharren. Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen. Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größten Teil der Realität, auf den sie sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.

[aus: Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München, Wien, 2003]

CAROLIN EMCKE: DEN OPFERN EINE SPRACHE LEIHEN

 

Einige meiner Freunde und manche Medienvertreter fragen wieder und wieder, warum wir in Krisengebiete fahren. Warum wir Tod und Gewalt besichtigen wollen? Warum wir immer wieder an solche Orte zurückkehren? Warum wir achtlos unser Leben aufs Spiel setzen? Als in Afghanistan acht meiner Kollegen innerhalb der ersten zehn Tage getötet wurden, fragten manche: Warum sind sie jene Straße entlanggefahren? Warum sind sie in Begleitung dieser Leute gereist? Wie konnten sie so unvorsichtig sein? Waren sie vom Ehrgeiz getrieben? Vom Voyeurismus? Vom Druck aus ihren Redaktionen? Die Gründe und Motive, die mich diese Themen und Länder suchen lassen, sind vielschichtig. Manche sind mir bewusst, andere nicht. Manche sind so eng mit meiner Person verwoben, dass ich sie kaum entwirren und mit kurzen, klaren Sätzen erklären kann. Manche sind banal, manche egozentrisch und politisch. Vor allem gehe ich auf solche Reisen, weil mich das Wissen von den Opfern des Krieges und des Unrechts umtreibt. Es geht um die Genese von Ausgrenzung und Krieg – und darum, den Opfern eine Sprache zu leihen. Allzuoft treffen Misshandlung und Gewalt ihre Opfer nicht nur äußerlich: Die Opfer werden nicht nur geschlagen und vergewaltigt, sondern das Trauma nimmt ihnen auch die Fähigkeit, zu sprechen oder sich verständlich zu artikulieren. Unterdrückung und Gewalt gegen Einzelne oder Gruppen haben nicht nur das Ziel, die Menschen auszulöschen, sondern auch, alle Spuren des Verbrechens zu verwischen. Am Anfang aller Spuren und der Möglichkeit, sie zu verfolgen, steht die Sprache. Es ist eine Methode der systematischen Unterdrückung: Man zerstört die Fähigkeit der Menschen, auf verständliche Weise zu berichten, was ihnen angetan wurde.

[aus: Carolin Emcke: Von den Kriegen. Briefe an Freunde, Frankfurt am Main, 2004]

HARTMUT BÖHME: VOM WASSER

 

Ursache für Unerschöpflichkeit des Wassers als Reservoir kultureller Symbolwelten ist der Reichtum und die Evidenz seiner Erscheinungen. Wasser tritt aus der Welt als Quelle, bewegt sich als Fluss, steht als See, ist in ewiger Ruhe und endloser Bewegtheit das Meer. Es verwandelt sich zu Eis oder zu Dampf; es bewegt sich aufwärts durch Verdunstung und abwärts als Regen, Schnee oder Hagel; es fliegt als Wolke. Es ist der Samen, der die Erde befruchtet. Es spritzt, rauscht, sprüht, gurgelt, gluckert, wirbelt, stürzt, brandet, rollt, rieselt, zischt, wogt, sickert, kräuselt, murmelt, spiegelt, quillt, tröpfelt, brandet … Es ist farblos und kann alle Farben annehmen. Im Durst weckt es das ursprünglichste Verlangen, rinnt erquickend durch die Kehle; es wird probiert, schlückchenweise getrunken, hinuntergestürzt.  Es lässt Enge und Weite des Leibes spüren; es weckt beim Schwimmen die Ahnung davon, was Schweben, Gleiten, Schwerelosigkeit sind. Im Wasser wohnt der Embryo. Wasser reinigt Körper und Dinge, ja Seele und Geist. Wassertaufe. Wasser löst auf und verbindet, es grenzt ab und vereinigt. In den Übergängen zwischen Flüssigem und Festen bildet es seltsame Zonen: schleimig, schmierig, glitschig, schlammig, moorig, matschig – Aggregate, ohne die wir kaum wüssten, was zum Beispiel Ekel ist. Es öffnet Weite im Anblick des Meeres und bildet als Quelle oder Bach die Mitte des locus amoenus [lateinisch für ›lieblicher Ort‹]. Es ist formlos, passt sich jeder Form an; es ist weich, aber stärker als Stein. So bildet es selbst Formen: Täler, Küsten, Grotten. Es gestaltet Landschaften und Lebensformen durch extremen Mangel (Wüste) oder periodischen Überfluss (Regenzeit). Es ängstigt, bedroht, verletzt und zerstört den Menschen und seine Einrichtungen durch Überschwemmungen, Sturmfluten, Hagelschlag. Symbolische Wasser-Katastrophen lagern tief im kollektiven Gedächtnis: Sintflut, Atlantis, Titanic. So enthält Wasser den Tod und gebiert alles Leben.

[aus: Hartmut Böhme (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt am Main, 1988]