Theater einBLICK

14.03.2023

Menschen in Schieflage

Ina Laengner hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Vor Sonnenaufgang« besucht.
Vor Sonnenaufgang
Zum Stück

Das Stück »Vor Sonnenaufgang« von Ewald Palmetshofer nach Gerhard Hauptmann in der Inszenierung von Erich Sidler zeigt den Verfall einer Familie. Zu Beginn des Stückes geht die Unternehmerfamilie Krause alltäglichen Tätigkeiten nach. Vater Egon (Florian Eppinger) und die Stiefmutter Annemarie (Rebecca Klingenberg) gehen mit den Töchtern Martha und Helene einkaufen. Zur Unterstützung der hochschwangeren Martha (Gaia Vogel) ist die jüngere Schwester Helene (Anna Paula Muth) extra angereist. Marthas Mann Thomas Hoffmann (Bastian Dulisch) bleibt zu Hause. Als überraschenderweise der Journalist Alfred Loth (Gabriel von Berlepsch) als Gast auftaucht, werden Risse in der Fassade der Familienstruktur deutlich. Die Ehe von Egon und Annegret ist durch Egons Alkoholkonsum und Ausschweifungen geprägt. Die schwangere Martha leidet unter Depressionen, die sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hat. Ihr Mann Thomas hat mittlerweile die Geschäftsführung des eingeheirateten Familienbetriebes übernommen und zeigt wenig Interesse an der körperlichen und seelischen Situation seiner Frau. Helene ist mit ihrer Selbständigkeit gescheitert.

Alfred war ein Studienfreund von Thomas. Sie haben damals ein Zimmer und linke politische Positionen geteilt. Alfred, der seinen Überzeugungen treu geblieben ist, geht bei seinem Besuch der Frage nach, warum Thomas rechte Tendenzen entwickelt hat und sie politisch so weit auseinandergedriftet sind. In den Auseinandersetzungen wirft Alfred Thomas vor, sich dem kapitalistischen System untergeordnet zu haben und im Gegenzug argumentiert Thomas mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten und wirft Alfred linke Nostalgie vor. Sie bleiben im Diskurs, auch wenn sie sich in unterschiedlichen Fronten bewegen. Unter der Entfremdung liegt immer noch ein Teil ihrer damaligen Verbundenheit, vielleicht auch eine Art Sehnsucht danach.
Dr. Peter Schimmelpfennig (Roman Majewski), der für die Betreuung der Schwangerschaft von Martha hinzugezogen wurde, ist auch ein Studienfreund der Beiden. Seine Anmerkung zu ihrem Konflikt ist: »Wir werden, was wir sind.« Diese Aussage macht deutlich, dass kein eigener Handlungs- und Entwicklungsspielraum möglich ist. Die soziale Situation bestimmt das Sein.
Während eines Tages und zweier Nächte verstärken sich die zerstörerischen Beziehungen untereinander und der Morgen endet mit einer Katastrophe.

In der Inszenierung wirkt vieles fragmentiert, was einst zusammengehörig und vollständig erschien. Sätze werden nicht vollendet und brechen plötzlich ab. Im beeindruckenden Bühnenbild (Jörg Kiefel) ist der Boden eine Art Podest aus auseinanderstehenden Vierkanthölzern, auf denen balanciert oder drunter durchgekrochen wird. Der Boden auf denen sich die handelnden Personen bewegen ist instabil, so wie ihre Beziehungen und ihr Leben. Das Bühnenbild ist eine Art Netz, in dem sie gefangen sind. Niemand kann seiner Rolle entfliehen. Nicht nur die Art der Sprache, sondern auch die Körpersprache der Protagonisten ist teilweise starr. Sie stehen unnatürlich schräg und befinden sich auf verschiedene Raumebenen. Mal sind sie auf den Hölzern, mal darunter. Einige der intensivsten Momente, bei denen eine körperliche Beweglichkeit und ein emotionaler Ausdruck entsteht, ist bei den musikalischen Einlagen (Musik: Michael Frei) Durch Gesang und Tanz (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà) sind unterschiedliche Emotionen deutlich herausgearbeitet. In den Dialogen sind persönliche Bedürfnisse und eine Bezogenheit aufeinander kaum erkennbar.
Es gibt keine Requisiten, das Bühnenbild ist auf das Wichtigste, die Personen des Stückes und ihre Darstellung zentriert. Der Inszenierung und den Schauspieler*innen gelingt es hervorragend die Abgründe der bürgerlichen familiären Fassade zu entlarven und deren Beziehungslosigkeit, Vereinsamung und Resignation deutlich zu machen.
Ein gesellschaftlicher Bezug zeigt sich auch in der fehlenden Kommunikation, der teilweisen Polarisierung und der dadurch vertanen Chance, tatsächlich in Beziehung zu treten. 13.3.2023

 

 

© Georges Pauly