»Die Wand« (Regie: Daniel Foerster) beginnt für die Zuschauenden stehend in einem engen Raum. Zwischen vier Wänden aus hellem Holz und milchigem Plastik (Bühne und Kostüme: Lise Kruse) berichtet die Frau (Marie Seiser) davon, wie sich unerwartet alleine in einer Jagdhütte in den Bergen zurechtfinden muss, in der sie eigentlich nur ein paar Tage mit ihrer Cousine und ihrem Mann verbringen wollte. Jedoch kehrt das Ehepaar von einem Ausflug ins Dorf nicht zurück und die Jagdhütte wird über Nacht von einer unsichtbaren Wand von der Außenwelt abgetrennt. Diese Außenwelt beschreibt die Frau als tot und erstarrt, alles Leben findet nur noch vor der Wand, in der Jagdhütte statt. Was der Frau bleibt, ist der Hund Luchs (Gerd Zinck), die zugelaufene Katze (Lou von Gündell), eine Kuh und sie selbst. Die räumliche Nähe zu den Schauspielenden, vor allem zu ihr, wirkt angenehm beklemmend. Marie Seisers Schauspiel hat eine unglaubliche Kraft und Intensität und zieht die Zuschauenden von Anfang an in einen Bann. Dadurch entsteht ein Gefühl der Verbundenheit, einer inneren Ruhe, die die Einsamkeit der Wand spürbar macht.
Einen spannenden Kontrast dazu bietet das Aufbrechen der vierten Wand des Bühnenbildes, das durch ein wildes Spiel zwischen der Frau und Luchs eingeläutet wird. Das Toben der beiden löst die vorherige Beklemmung für einen Moment, wirkt befreiend und entlässt die Zuschauenden, die auf der Tribüne Platz nehmen dürfen, aus der Bedrängung der Wand. Die aufgelöste Stimmung währt jedoch nur kurz, denn kaum hat das Publikum Platz genommen, ist die Frau auf der Bühne mit der nächsten Herausforderung konfrontiert: einer von Schmerzen geplagten Kuh, wunderbar dargestellt von Lou von Gündell, will geholfen werden. Ein Ereignis jagt das nächste, Marie Seiser gelingt es, die Zuschauenden mitzunehmen und sanft durch die Schilderungen der Frau zu navigieren.
»Die Wand« hat als Bericht wenig Geschichte, wenig Handlung, aber trotzdem passiert so viel. »Die Wand« besteht aus vielen Momenten des Innehaltens, des Schauens, des Staunens, des Reflektierens, des Leidens. »Die Wand« lädt die Zuschauenden ein, Emotionen zu fühlen und bietet Raum, diese zuzulassen. Es bedrückt und macht traurig, wie Marie Seiser aus dem früheren Leben von ihr mit ihrer Familie erzählt. Es macht so unglaublich viel Spaß, Seiser dabei zuzusehen, wie sie auf der Bühne mit einer Kettensäge Holz sägt oder Kartoffeln erntet. Es berührt und beeindruckt, wie Lou von Gündell eine Kätzchenfigur aus Klebeband zum Leben erweckt. Es fasziniert, Gerd Zinck als treuen Vierbeiner zu erleben. Es macht unendlich traurig ,von Luchs ableben zu erfahren, wütend auf die sinnlose Gewalt des fremden Mannes und zufrieden über die Konsequenzen, die dieser erfährt. Es macht stolz auf die Frau, die weiter macht.
»Die Wand« ist sowohl beklemmend als auch befreiend, belastend sowie tröstlich, ruhig und gewaltig. Die deutlich aus dem Repertoire des DT Göttingen hervorstechende Inszenierung ist ein must-see. Der Premierenabend endete mit stehenden Ovationen.
Ronja Kirschke, 27. August 2025