Theater einBLICK

15.03.2023

Das Huuuhn 😭

Ronja Kirschke hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, eine Vorstellung »Zerstörte Straßen« besucht.
Zerstörte Straßen
Zum Stück

Die Zuschauer*innen werden mit sechs unterschiedlichen Handlungssträngen konfrontiert: Natascha (Jenny Weichert), eine Journalistin, will über die Besetzung des Donezker Flughafen schreiben und folgt einem Soldaten (Marco Matthes, auch als Großmutter herzergreifend überzeugend) an die Front. Sie verliebt sich in ihn. Drei Schülerinnen (Nathalie Thiede, Tara Helena Weiß, Jenny Weichert) treffen sich nach der Schule. Sie reden über Jungs, Soldaten, den Krieg, über den ersten Sex und Gefühle. Ein Soldat (Paul Trempnau) und sein Kommandant (Marco Matthes) halten an einem Checkpoint einen Schuldirektor (Daniel Mühe) an und verdächtigen ihn, Separatist zu sein. Ein Soldat (Daniel Mühe) und eine Frau (Nathalie Thiede) transportieren einen Leichnam im Auto. Er war sein Kommandant und ihr Liebhaber. Ein Separatist (Paul Trempnau) hält eine junge ukrainische Journalistin (Tara Helena Weiß) in einem Bunker gefangen. Er missbraucht und foltert sie. Sie setzt alles daran zu überleben. Die junge Journalistin erzählt, wie sie vor dem Krieg ein Huhn angefahren hat, und dieses bei den Besitzer*innen (Nathalie Thiede, Marco Matthes) bezahlen wollte. Sie schildert, wie ihre Aufrichtigkeit ausgenutzt wurde. Schauplatz all dieser Szenen ist die Drehbühne, auf der eindrucksvoll große gebogene schwarze Säulen aufgebaut sind, die in Nebel gehüllt, zueinander gedreht sind und an das Gerüst eines zerstörten Hangars erinnern (Bühne und Lichtdesign: Norman Plathe-Narr). Das großartige Kostümbild, bestehend aus alltagstauglicher Kleidung, rundet die Szenerie ab (Bühne und Kostüm: Karoline Bierner).

Es ist schwierig, Krieg für eine Gesellschaft, die mehrheitlich in Frieden aufgewachsen ist, begreiflich zu machen, was Krieg konkret bedeutet. »Zerstörte Straßen« bringt das Leid des Krieges zu uns. Die Inszenierung zwingt uns, zu ›verstehen‹, was Krieg bedeutet. Krieg ist nicht (nur) etwas, wo anonyme Soldaten hingeschickt werden. Es betrifft jede*n Einzelne*n. Stößt bis in die intimsten Winkel des Lebens vor.

Die Zuschauenden werden bei dieser Inszenierung nicht mit abstrakten Kampfhandlungen konfrontiert. Stattdessen wird in verschiedenen Sequenzen gezeigt, wie sich die Grausamkeit des Krieges manifestiert. Dadurch, dass das Grauen in das zivile Leben hineingetragen wird, schließt das Stück direkt an die Erlebnisse/Überlebnisse des alltäglichen Lebens an. Es kratzt an der Urangst vor sexuellem Missbrauch, an dem Misstrauen gegenüber Männern, an der eine*n immer begleitenden Angst vor dem gesellschaftlich konstruierten anonymen Täter, der eine*n überfällt und in irgendwelche Keller verschleppt. Der Bunker scheint plötzlich gar nicht so weit entfernt. Trempnau und Weiß stellen den misshandelnden, folternden Soldaten und die überlebende Frau so intensiv und überzeugend dar, dass sich die Szene auch losgelöst von dem Kriegskontext des Stückes betrachten lässt. Die Dialoge und Gewalt sind absolut realitätsnah und sind Paradebeispiele toxischer Beziehungen. Für die Zuschauenden ist es bei diesen Szenen hilfreich, dass Trempnau so sympathisch wirkt, es erinnert daran, dass der Abgrund, in den sie gezwungen sind zu starren zumindest für sie in diesem Moment inszeniert ist. Hervorzuheben ist auch Weiß’ Spiel: Die Stärke der Figur der jungen Journalistin, die in dieser aussichtslos erscheinenden Situation nicht aufgibt, Überlebensstrategien anwendet und es schafft, sich selbst zu befreien.

Die Inszenierung ist absolut sehenswert. Niklas Ritter gelingt es, die perfekte Balance zwischen dem, was gezeigt werden muss und dem was auszuhalten ist, zu finden und lässt Szenen genau an der Stelle ab- bzw. unterbrechen, wenn man sich innerlich darauf vorbereitet hat, laut zu schreien, weil man es nicht mehr aushält. 15.3.2023

 

© Thomas Aurin