Theater einBLICK

04.10.2023

Der unausweichliche Tanz der Axt

Katja Hagedorn und Ronja Kirschke haben für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Der Kirschgarten« besucht.
Der Kirschgarten
Zum Stück

Die 17-jährige Anja (Anna Paula Muth) holt ihre Mutter Ljubow Andrejewna Ranjewskaja (Rebecca Klingenberg) aus Paris zurück auf ihr Gut, nachdem sie dieses fünf Jahre zuvor ebenso wie ihre Töchter verlassen hatte (Mutter des Jahres 🏆). Diese bleiben in ihrer Trauer um ihren kurz zuvor verstorbenen Bruder allein zurück. Das verantwortungslose Handeln der Ranjewskaja geht einher mit dem gedankenlosen Verprassen ihres Vermögens in Frankreich. Doch auch das Gut mit dem berühmten Kirschgarten steht kurz vor der Zwangsversteigerung und bietet ihr keine Zuflucht vor dem selbstverschuldeten finanziellen Ruin. Einem möglichen Ausweg durch Jermolaj Alexejewitsch Lopachin (Paul Trempnau), dem Nachkommen von Leibeigenen, schlagen sie und ihr ebenso realitätsferner Bruder Leonid Andrejewitsch Gajew (Gerd Zinck) in den Wind. Der reiche Kaufmann schlägt wiederholt das Abholzen des Kirschgartens sowie die Verpachtung des Landes zugunsten des Baus von Datschen vor. Die Zuschauerin im 21. Jahrhundert kann nicht anders, als dem Fällen des symbolischen Kirschgartens entgegenzufiebern. Denn er ist die Verkörperung alter Traditionen und einer Gesellschaftsschicht, die ihren Reichtum durch die Ausbeutung anderer gewonnen hat. Sie jedoch hofft auf eine gerechtere Zukunft. Mit Blick auf die Gegenwart ist dieser Aspekt besonders interessant: Weiterhin basiert unsere Gesellschaftsform auf einem kapitalistischen Ausbeutungssystem. Im Angesicht von Artensterben und Klimakrise plädiert die Zuschauerin heute gleichzeitig jedoch für den Erhalt des Kirschgartens als Stück Natur und gegen die Versiegelung der Böden. Auch, da es nicht um die Schaffung von benötigtem Wohnraum, sondern um Zweitwohnsitze – wiederum für Eliten – geht.
Eine Stärke der Inszenierung von Erich Sidler ist die Fokussierung auf die Geschwisterbeziehungen, die gleichzeitig den Kontrast der Generationen symbolisieren: Auf der einen Seite stehen die Boomer*innen Ranjewskaja und Gajew, die sich weigern, erwachsen zu werden, der Realität ins Auge zu blicken und ihr Verhalten zu adaptieren, die nicht nur ihre eigene Zukunft sondern auch die Zukunft ihrer Nachkommen verunmöglichen. Das kluge Kostümbild (Elena Gaus) verstärkt diesen Eindruck. Ihnen gegenüber stehen Warja (Tara Helena Weiß) als Vertreterin der Gen Y, die als »Generation Praktikum« und durch unermüdliche Arbeit den Laden am Laufen hält – in Kooperation mit der Gen Z, Anja, die zunächst naiv und mädchenhaft, jedoch durch das Versagen der Elterngeneration gezwungen wird, schneller erwachsen zu werden als es wünschenswert wäre. Am Ende verkehren sich die Rollen der Ranjewskaja und Anja, als sie es ist, die ihre hilfslose Mutter von der Bühne trägt. Die Enge der Guckkastenbühne wirkt zusätzlich beengend durch übergroße projizierte Kirschblüten (Bühne: Jörg Kiefel, Video: Jonas Link).
Sehr eindrucksvoll wirken auch die durchdachten Choreografien von Valentí Rocamora i Torà, in denen sich die Figuren in ihren Bahnen über die Bühne bewegen, manchmal miteinander tanzen, ohne dabei je wirklich miteinander in Kontakt zu treten. Lopachins verzweifelte Versuche den Verkauf des Guts im Sinne der Ranjewskaja zu regeln schlagen fehl. Während diese einen letzten Ball veranstaltet und bis zum Schluss die Augen vor der Realität verschließt und so erst auf der Party vom Verkauf erfährt, ist sie bestürzt, aber noch immer handlungsunfähig. Das Alte endet ohne die Einleitung eines Neuanfangs, das Ende wird stattdessen betrauert. Auf das finale Kratzen der Schallplatte (Musik: Michael Frei) folgt Stille, die Zuschauerin wartet vergeblich auf die ersehnten Axtschläge. Auf die Stille folgt nichts. Kein Neubeginn, keine Hoffnung für Gen Y und Gen Z. 3.10.2023

 

© Klaus Herrmann