Der russische Arzt und Autor Anton Pawlowitsch Tschechow verstarb am 15. Juli 1904 im Alter von 44 Jahren in Badenweiler, knapp ein halbes Jahr nach der Uraufführung des »Kirschgartens«. Sein Begräbnis hätte aus einer seiner Komödien stammen können: Die Moskauer Trauergäste folgten dem Sarg eines Generals, der im gleichen Zug transportiert worden war, während der tote Autor einsam in einem Waggon mit der Aufschrift »für Austern« auf seine Beisetzung wartete. Seine Stücke veränderten das Theater. Seine Figuren reden nicht mehr miteinander, sie reden aneinander vorbei. Und dort, wo sie plötzlich verstummen, wo Schweigen ausbricht, wird die Wahrheit sichtbar.
Mit dem Zauber seiner Blütenpracht zieht der alte Kirschgarten Ranjewskaja sofort in seinen Bann, als diese nach fünf in Frankreich verbrachten Jahren nach Hause zurückkehrt. Erinnerungen an unbeschwerte Tage werden wach und sie sind sehr viel angenehmer als die
Realität, der sie sich eigentlich stellen müsste: Sowohl sie als auch ihr Bruder haben in den letzten Jahren über ihre Verhältnisse gelebt. Ihr Vermögen ist aufgebraucht und der Familienbesitz, zu dem der Kirschgarten gehört, ist hoch verschuldet. Für seine Rettung fehlen die Ideen
und die Energie und so kommt es schließlich zur Zwangsversteigerung. Lopachin, ein reicher Kaufmann, dessen Vorfahren Leibeigene von Ranjewskajas Familie waren, bekommt den Zuschlag und er geht sofort tatkräftig ans Werk. Während die Gutsbewohner*innen noch in Nostalgie schwelgen, fallen schon die ersten Kirschbäume. Das Areal wird parzelliert und mit Datschen bebaut. Die neuen Zeiten verlangen nach Rendite statt nach Zauber. In Tschechows Komödie verweigert sich eine Gesellschaft den Herausforderungen der Zukunft. Die Gutsbe-
wohner*innen haben die Stagnation zum Lebensprinzip erhoben und darüber ist ihnen ihr Daseinsgrund und damit die Fähigkeit zum Handeln abhandengekommen. Der Glaube, die Zukunft ließe sich abwenden, indem man sie lange genug ignoriert, erweist sich als schwerer
Irrtum. Mit den fallenden Kirschbäumen ist das vermeintliche Paradies zerstört. Ironie des Schicksals: Am Tage des Ausbruchs der Oktoberrevolution stand »Der Kirschgarten« auf dem Spielplan des Moskauer Künstlertheaters.