Theater einBLICK

15.02.2023

Ein Fest der Gefühle

Marita Koenig hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Hedwig and the Angry Inch« besucht.
Hedwig and the Angry Inch
Zum Stück

Die Suche nach der eigenen Identität ist für uns alle ein elementarer Bestandteil des Lebens. Für viele Menschen, wie Menschen der queeren Community, befinden sich auf diesem Weg leider immer noch zusätzliche Hürden, die dazu führen, dass man einen ganz essentiellen Teil von sich womöglich leugnet und jahrelang unterdrückt. Wie kann man das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz mit der eigenen Identität vereinbaren, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die die freie Entfaltung einschränkt? Man sei zu viel, zu extravagant, man müsse ja nicht alles in der Öffentlichkeit ausleben. »Hedwig and the Angry Inch« zelebriert den Mut, den es braucht, um den eigenen Weg zu finden, sei er noch so holprig. Die Bühne wird, oder bleibt, die des Deutschen Theaters – mit der Ausnahme der vielen Koffer und dem ganzen Tour Equipment, das zu Hedwig und ihrer Band »The Angry Inch« gehört. Durch das Bühnenbild von Thomas Rump wird das Stück auf eine persönliche Ebene gebracht, bergen die vielen Koffer doch Gegenstände, die bei einem Leben auf Tour – einem ständigen Weg ohne längeren Aufenthaltsort – nicht fehlen dürfen. Die Zuschauer*innen kommen mit diesem Theaterbesuch in den Genuss von verschiedenen Kulturveranstaltungen: ein gelungenes Konzert mit den Liedern von Stephen Trask, die in ihren Genres abwechslungsreich sind, unter der musikalischen Leitung von Michael Frei und ein unterhaltsames, aber auch zum Nachdenken anregendes Theaterstück.
Hedwig wuchs in der DDR als Hansel auf und ist seit der Kindheit davon überzeugt, nicht vollständig zu sein und eine andere Person zu brauchen, die sie ergänzt. Eine zufällige Begegnung mit einem amerikanischen Soldaten ermöglicht Hansel eine – nicht ganz schmerz- und verlustfreie – Flucht aus dem geteilten Deutschland (er unterzieht sich einer missglückten und nicht völlig freiwilligen Geschlechtsoperation und heißt seither Hedwig). Sie landet schließlich allein in einem Trailerpark in den Staaten. Dort lernt sie Tommy Speck kennen, mit dem sie Musik macht und von dem sie denkt, er sei die Person, die sie komplettiert. Doch Tommy hintergeht sie schon bald, indem er mit den gemeinsamen Liedern eigene Sache macht und als Tommy Gnosis erfolgreich wird. Die Öffentlichkeit weiß nichts über Hedwigs Vergangenheit und spekuliert lediglich über die Rolle Hedwigs in ihrer Beziehung zu Tommy. Hedwig vertraut dem Publikum fortan – in Form von Musik und Monologen – ihre Lebensgeschichte und ihren ganz persönlichen Leidensweg an.
Hedwig, gespielt von Volker Muthmann, zieht alle in ihren Bann, trotz oder gerade wegen ihrer selbstdarstellerischen, liebenswert neckenden Art, die sie auszeichnet. Muthmann schlüpft mit einer Leichtigkeit in diese Rolle – so improvisiert er, interagiert er mit dem Publikum und ist kurz gesagt einfach überzeugend, so dass man fast vergisst, dass es nicht wirklich Hedwig ist, die auf der Bühne steht.
Auch seine Kollegin, Tara Helena Weiß, die Hedwigs Ehemann Yitzhak spielt, begeistert, nicht zuletzt mit einer beneidenswerten Kontrolle über ihre Stimme – ihre Figur bleibt gerade deswegen immerzu im Hintergrund und kämpft damit. Tara Helena Weiß drückt die Frustration ihrer Rolle sehr glaubhaft aus und macht deutlich, dass auch wenn Yitzhaks Geschichte von Hedwig überschattet wird, sie genauso wichtig ist.
Im Laufe des Stückes merkt man, dass die lebensfrohe Aufmachung der Inszenierung von Sarah Kurze und Moritz Franz Beichl täuscht: nach und nach scheint die wahre Hedwig durch, die für ein freies Leben einiges riskiert hat. Es wird klar, dass das Stück sehr viel mehr Tragik birgt, als es auf den ersten Blick, durch die großartigen Kostüme von Astrid Klein, zu scheinen mag. Dennoch kippt die Stimmung nicht – im Gegenteil: es ist ein Fest der Gefühle, das ein bestärkendes Gefühl vermittelt: man muss sich selbst treu bleiben, um glücklich zu sein. 14.2.2023

 

© Thomas Müller