Theater einBLICK

07.03.2023

Ein schonungsloser Blick auf den in die Welt geworfenen Menschen

Katja Hellmys hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Vor Sonnenaufgang« besucht.
Vor Sonnenaufgang
Zum Stück

Vor Sonnenaufgang ist die dunkelste Stunde: Wenn sich ein Leerraum bildet, der sich mit den Abgründen und Sehnsüchten des Individuums füllt. Inszeniert werden diese von Erich Sidler in dem Stück »Vor Sonnenaufgang«. Angelehnt an das gleichnamige Drama von Gerhart Hauptmann wird die Aufstiegsgeschichte einer mittelständischen Unternehmerfamilie erzählt, deren sozialer Raum von dem österreichischen Dramatiker Ewald Palmetshofer von einer Bauernfamilie des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt wird.
Ein hölzernes Gerüst dient als Spielfläche, ein fragiles Netz, das die Schauspieler*innen in ihrem Spiel räumlich begrenzt. In diesem von Jörg Kiefel gestalteten Bühnenbild trifft die Familie des Unternehmers Egon Krause zusammen: Dessen zwei Töchter Helene und Magda, seine zweite Ehefrau Annemarie sowie der Schwiegersohn Thomas, der schon bald mit seinem alten Studienfreund Alfred konfrontiert wird, und der ebenfalls ehemalige Studienfreund und Arzt der Familie Paul.
Das Stück beginnt mit einem kurzen, amüsant unterlegten Einblick in das Leben der Familie Krause, die sich auf die anstehende Geburt der schwangeren Magda vorbereitet. Unterbrochen wird das Miteinander der Schauspieler*innen durch musikalische Zäsuren von Michael Frei, die von tänzerischen Einlagen (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà) begleitet werden.
Mit Herannahen des Sonnenaufgangs zerbricht jedoch die familiäre Fassade Zusehens. Angekündigt wird das Zerbrechen durch das Auftauchen Alfreds. Mit ihm geht das Spiel zunehmend in Konfrontationen über. Der wirtschaftsorientierte Thomas wird mit seinem linken Antagonisten Alfred konfrontiert, die kinderlose Stiefmutter Annemarie mit ihrem trinkenden Mann Egon und die werdende Mutter mit ihrem noch ungeborenen Kind.
Die Trivialität des ersten Eindrucks weicht somit peu à peu dem Einblick in die familiären und individuellen Abgründe, die sich in dem Spiel mit dem begrenzenden Raum auftun. Das Individuum geriet in Schieflage, die Schauspieler*innen verschwinden unter dem Gerüst, tauchen plötzlich wieder auf, klettern herum und versuchen sich dem anderen anzunähern, immer begrenzt durch den sie einschließenden Raum. Begleitet wird die räumliche von einer sprachlichen Begrenztheit. Abgehakt, brüchig und verstellt versucht das Individuum in Kontakt mit den anderen zu treten und scheitert daran, sich selbst mit seinen Bedürfnissen mitzuteilen. Die musikalischen Unterbrechungen gehen in immer groteskere Tanzeinlagen über, welche die anfängliche choreografische Synchronität zwischen den Beteiligten in die Ferne rücken lässt: Das Leben gerät aus dem Takt.
Die Stärke beweist das Stück vor allem in den Begegnungen, Gespräche und Diskussionen der Figuren. Die Regungslosigkeit der Stiefmutter Annemarie, umwerfend verkörpert von Rebecca Klingenberg, als deren Mann Egon Krause, gespielt von Florian Eppinger, wieder einmal betrunken nach Hause kommt. Die Konfrontation der entfremdeten Studienfreunde Thomas und Alfred, dargestellt von Bastian Dulisch und Gabriel von Berlepsch, deren dualistische Weltsichten immer wieder durchbrochen werden von der einstigen emotionalen Verbindung. Das Gespräch zwischen den Schwestern Helene und Magda, gespielt von Anna Paul Muth und Gaia Vogel, welches das berufliche Scheitern der jungen Helene aufzeigt, ebenso wie das Hadern Magdas mit ihrer Rolle als werdende Mutter.
In all diesen zwischenmenschlichen Konstellationen brechen tiefgreifende Konflikte auf, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinandergreifen und ein handlungsunfähiges Individuum zurücklassen. Das Stück »Vor Sonnenaufgang« zeigt den Menschen nicht als Wesen, dessen Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstentwicklung in seinen eigenen Händen liegen. Vielmehr ist er eingesperrt, begrenzt und von dem potenziellen Fall ins Bodenlose bedroht. Der Mensch entwickelt sich nicht, sondern stagniert in dem geschlossenen Raum den Bedingungen seiner sozialen Existenz. Die logische Konsequenz dieser Begrenztheit ist nicht der Neuanfang des sich annähernden Tages, der mit der Geburt des Kindes eingeläutet werden könnte. Vielmehr ist es das Sterben jeder Hoffnung auf ein anderes Leben, das sich in dem Tod des Neugeborenen offenbart.
In dieser Dechiffrierung der gelebten Realität des Individuums entfaltet das Stück seine Stärke. »Vor Sonnenaufgang« wirft den schonungslosen Blick auf den Menschen, der in die Welt geworfen und in seiner Existenz vom freien Fall bedroht ist. Damit wird das Psychogramm eines Menschen entworfen, dessen einzige Behauptung gegen diese Welt darin besteht, sie zu hinterfragen. 7.3.2023

 

© Georges Pauly