Theater einBLICK

24.10.2023

Eine großartige Klassikerinszenierung, die den Zeitnerv trifft

Christine Wegener hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Der Kirschgarten« besucht.
Der Kirschgarten
Zum Stück

Am 29. September 2023 legte das Deutsche Theater Göttingen mit der Premiere von Tschechows »Der Kirschgarten« in der Regie von Intendant Erich Sidler einen fulminanten Start in die neue Spielzeit hin. Die große Bühne im dt.1 als Guckkasten von Jörg Kiefel gestaltet, zeigt an den drei Wänden übergroße Kirschblüten, die im Laufe des Spiels durch eine sensible und passgenaue Licht- und Videoregie in immer neuen Schattierungen und Nuancen erscheint und das Publikum von Beginn an in seinen Bann zieht. Drei Bänke als zentrale Requisiten, die im Handumdrehen zu immer neuen Spielflächen werden; mehr ist nicht nötig, um den Raum wirkungsvoll zu gestalten.
Nach Jahren in der Fremde kehrt Andrejewna Ranjewskaja mit ihrer Tochter auf das elterliche Landgut in Russland zurück, das sie nach dem Tod ihres Sohnes überstürzt verlassen hat, um ihrem Schmerz zu entfliehen. Persönlich in ihren Beziehungen in Frankreich gescheitert und völlig verarmt, kommt sie mit ihrer Entourage an ihren Sehnsuchtsort zurück. Die Rückkehr in ihre vermeintliche Idylle macht sie jedoch blind für die Realität, die sie nicht wahrhaben will: Das Landgut ist hoch verschuldet und von der Zwangsversteigerung bedroht. Die alte Heimat ist für Andrejewna Ranjewskaja kein sicherer Zufluchtsort mehr. Um sie herum hat sich alles verändert, nur die übrigen Bewohner*innen auf dem Gut sind noch die gleichen geblieben und der von ihr geliebte Kirschgarten in all seiner Pracht.
Rebecca Klingenberg verkörpert die Figur der Andrejewna glänzend in all ihren emotionalen Facetten – absolut ausdrucksstark und leidenschaftlich. Der junge Kaufmann Lopachin, ihr einstiger Bewunderer und Sohn eines ehemaligen Leibeigenen, ebenso überzeugend dargestellt von Paul Trempnau, sieht den Ausweg aus der finanziellen Misere im Verkauf des Kirschgartens, um das Areal zu parzellieren und Datschen zu bauen und um auf diesem Weg das gut zu retten. Letztendlich steht der Träumerin Andrejewna Ranjewskaja der Realist Lopachin gegenüber, der schließlich in der Zwangsversteigerung des Gutes den Zuschlag bekommt und der seine Ideen in die Tat umsetzt. Ranjewskaja kann den Schritt in die neue Zeit nicht mitgehen, sie ist und bleibt im Alten verhaftet.
Kulminationspunkt all ihrer Verdrängungsmechanismen ist die von Valentí Rocamora i Torà glänzend choreografierte Ballszene zu Beginn des zweiten Aktes, in der die Protagonistin der Zeit der größten Krise ein rauschendes kostspieliges Fest entgegensetzt, was vom Publikum mit offenem Szenenapplaus bedacht wurde. Ebenso gelungen ist das kontrastreiche und wortlose körperbetonte Spiel in den Massenszenen durch den Wechsel von dynamischen und statischen Elementen: das schnelle Gehen im Raum, das Verharren im Freeze, welche tollen Bilder erzeugte, und das Sich-wieder-in- Bewegung-setzen um die Handlung weiter zu entwickeln, wurde von den Zuschauer*innen goutiert. Alle Schauspieler*innen brillierten mit einer starken Bühnenpräsenz.
Das Ende des Stückes mündet in einer bemerkenswerten Zuspitzung: Alle verlassen das Gut, nur der alte Diener, gespielt von Johannes Granzer, bleibt zurück. Die Schlussszene, in der er sterbend auf einer Bank liegt, wird musikalisch durch das Einspielen des Adagiettos aus der 5. Symphonie von Gustav Mahler untermauert, offensichtlich ein Zitat aus der Visconti-Verfilmung der Thomas-Mann-Novelle »Tod in Venedig«. Vielleicht ein wenig plakativ, weil der sterbende Aschenbach sofort damit assoziiert wird. Je länger aber die Musik spielt und je mehr sich die Kirschen des Bühnenbildes verdunkeln und am Schluss sogar ganz verschwinden, wird man als Zuschauer*in hineingesogen in diesen Abschied von der alten Zeit. Bravourös in der Licht- und Tonregie und ein »Zeitenwende«- Bild, das durchaus Anklänge an unsere Gegenwart hat.
Alles in allem erlebten die Premierenbesucher*innen eine hervorragende Ensembleleistung in einer großartigen Klassikerinszenierung, die vom Publikum mit langanhaltendem Applaus und  Bravo-Rufen bedacht wurde. Absolut sehenswert.

 

© Klaus Herrmann