Theater einBLICK

09.10.2023

Geschichte ist nie zu Ende erzählt

Ingrid Rosine Floerke hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Amsterdam« besucht.
Amsterdam
Zum Stück

Die Idee einer Gasrechnung aus dem Jahre 1944, genügt der Autorin Maya Arad Yasur, um eine Geschichte entspinnen zu lassen, die sich sowohl vertikal als auch horizontal durch gesellschaftspolitische und historische Ebenen bewegt. Diese Vielschichtigkeit und Komplexität werden trotz alledem klar und verständlich erzählt, und in gleicher Weise auf der Bühne des dt.1 umgesetzt (Regie: Isabel Osthues).
Das moderne Theater bedient sich dabei gerne Elemente von reduzierten und/oder symbolhaften Bühnenbildern. Auch bei der Inszenierung des Stückes »Amsterdam« gibt es keine Tür, an die nicht geklopft wird und die niederländische Atmosphäre der Grachtenstadt oder das Schlange stehen im Supermarkt entsteht rein in den Köpfen des Publikums. Dennoch ist das Bühnenbild wunderbar gelungen mit eindrücklichen Effekten (Jeremias Böttcher), die den Zuschauenden auf eine Reise durch Raum und Zeit der NS-Geschichte nimmt.
Feinfühlig entwickelt sich aus einem Dialog eine immer weiter sich ausdehnende Geschichte mit nach und nach dazu kommenden Protagonisten, die das bereits erzählte, unterstreichen, widersprechen, erweitern oder eine ganz neue Perspektive einflechten. Daraus erwächst ein Sog von sich neu öffnenden Konfrontationen der Geschehnisse und eröffnet die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Zeit, die sich bis in unsere Zeit hinein erzählen lässt, und eben auch heute noch nicht zu Ende erzählt, geschweige denn bewältigt ist.
Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas gelingt es dem Ensemble den Abend mit einer angenehmen Leichtigkeit, ohne belehrenden Zeigefinger, zu spielen. Diese erfrischende Darstellungsweise bescheren uns nicht nur die bekannten Schauspielenden des Deutschen Theater Göttingen wie Judith Strößenreuter, Florian Eppinger, Moritz Schulze und Gaby Dey, sondern auch die besondere Präsenz von Stella Maria Köb und der sich nahtlos ins Ensemble einfügende Leonard Wilhelm machen diesen Abend besonders sehenswert; ein Abend bei dem die Zuschauenden zwar aufgerüttelt und sensibilisiert werden für die Wichtigkeit einer Erinnerungskultur, aber gleichzeitig hoffnungsvolle Gedanken mit nach Hause nehmen, dass wir alle zusammen daran arbeiten können, dass sich Geschichte nicht wiederholt. 7.10.2023

 

© Thomas Müller