Theater einBLICK

10.01.2023

Hyggelig!

Katja Hagedorn hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Ronja Räubertochter« besucht.
Ronja Räubertochter
Zum Stück

Das diesjährige Weihnachtsmärchen des Deutschen Theater Göttingen ist die wunderbare Inszenierung des Kinderbuchklassikers »Ronja Räubertochter« von Astrid Lindgren unter der Regie von Theo Fransz. Ebenso wie das liebevoll gestaltete Bühnenbild, Bühne und Kostüme: Bettina Weller, ist die Beziehung der Eltern Mattis, Gerd Zinck, und Lovis, Katharina Pittelkow, zu ihrer Tochter Ronja, Anna Paula Muth. Interessant ist dabei die starke Bindung vor allem des Vaters, der bei der Vorstellung, Ronja könne in den Höllenschlund fallen, heftig zu weinen beginnt. Das ist sehr rührend, Zincks Spiel jedoch ist so herrlich übertrieben, dass man einfach auch lachen muss. Die titelgebende Hauptfigur spielt Muth als eine ganz bezaubernde Räubertochter, die ihr Pendant im Sohn der verfeindeten Räubersippe, Birk Borkason, Moritz Schulze, findet. Nach anfänglichem Misstrauen befreunden sich die beiden Räuberkinder und lernen, ihre Vorurteile zu überwinden, indem sie erkennen, dass sie sich ähnlicher sind als zunächst angenommen. Dass sie sich tatsächlich auch ebenbürtig sind, zeigt sich bereits im exakt gleichen Geburtsdatum, einer Gewitternacht sowie darin, dass sie sich wiederholt und gegenseitig das Leben retten. Sehr zum Missfallen ihrer Väter vergeschwistern sie sich und opfern sich im Laufe der Handlung füreinander auf. Durch ihre bedingungslose Freund*innenschaft hinterfragen Ronja und Birk das ewige »das haben wir schon immer so gemach« der Elterngeneration und finden schließlich einen utopischen Lebensentwurf, in welchem sie sich von ihren Herkunftsfamilien emanzipieren. In einem Anfall von Sturheit wendet sich Mattis von seinem Kind ab, woraufhin seine entfremdete Tochter Konsequenzen und mit Birk in den Wald zieht — jedoch unter dem Protest ihrer Mutter.
Der Streit, den Ronja und Birk später über ein (am Ende natürlich doch nicht) verschwundenes Messer führen lässt vergessen, dass sie eigentlich Kinder sind und erinnert an das Beziehungsstreitklischee der nicht geschlossenen Tube Zahnpaste. Auch dass ihr neuer Wohnort die Höhle — dargestellt durch einen lostplacig bewachsenen U-Bahn-Waggon — mit Zimmerpflanzen und Gardinen ausgestattet ist, stützt diesen Eindruck. Erst als die personifizierte Stimme der Vernunft, Ronjas Mutter Lovis, kommt, um sie nach Hause zurückzuholen wird die Zuschauerin daran erinnert, dass es eben kein Paar ist, das dort in der Höhle zusammenlebt, sondern Kinder sind.
Ronja jedoch lässt sich durch ihre Mutter nicht überreden und es kommt erst zur Versöhnung zwischen Vater und Tochter, als dieser persönlich erscheint, um sich zu entschuldigen und sie nach Hause in die Mattisburg zu bitten. Bemerkenswert ist, dass Lovis und Mattis ihre Tochter bitten und nicht zwingen — eben ganz im Lindgrenschen Grundsatz, Kindern mit Respekt zu begegnen.
Neben diesem ist in dieser Inszenierung ein anderer wichtiger Aspekt die progressive Darstellung von Männlichkeit. Neben der bereits erwähnten Zurschaustellung väterlicher Emotionen werden ein strickender Birk gezeigt sowie die Unterhemden der Räuberhauptmänner Mattis und Borka, Florian Eppinger, die mit Prinzessinnen und Ponys bedruckt sind. Doch diese progressive Darstellung ist ein zweischneidiges Schwert: Kinder werden noch immer in einer heteronormativen Welt groß und dementsprechend durch eine weitestgehend binärgeschlechtliche Denkweise geprägt. Daher ist es schwer zu sagen, ob die Publikumsreaktion auf den strickenden Birk ein Auslachen ist, da er einer weiblich konnotierten Tätigkeit nachgeht; weil stricken eine altertümliche Beschäftigung ist oder ob sie aus Freude darüber lachen, dass er Geschlechterklischees überwunden hat.
Obwohl beide Räuberhauptmänner behaupten, besser als der jeweils andere zu sein, wissen auch Mattis und Borka im Grunde, dass sie sich — wie ihre Kinder — in Wahrheit ebenbürtig sind. Darauf deutet auch die Wahl ihrer sich stark ähnelnden Unterhemden: Es gibt keine vernünftigen Gründe für die Verfeindung der Räubersippen. Aus im Schattenspiel angedeuteten und durch das restliche Ensemble sichtbar auf der Bühne produzierten Soundeffekte untermalten Prügelei der beiden Räuberhauptmänner geht kein eindeutiger Gewinner hervor. Dennoch gelingt es ihnen — im folgenden Gespräch — ihre als Kinder begonnene und durch die Gewalt von Mattis Vater beendete Freund*innenschaft wieder aufleben zu lassen.
Wesentlicher Bestandteil der Inszenierung ist neben der liebevollen Ausstattung auch der vielfältige Einsatz von Handpuppen, ferngesteuerten Gadgets und Masken. Nikolaus Kühn kann hier sein Talent unter anderem als Puppenspieler unter Beweis stellen. Dabei ergänzen sich die lustig-niedliche Darstellung von Tieren (ein im Rennauto über die Bühne heizender Igel! Wildenten!) mit wirklich gruseligen Monstern (Graugnome! Wilddruden!), die einige Kinder zum Weinen bringen, aber auch erwachsene Zuschauer*innen nicht kalt lassen. Neben der musikalischen Untermalung, Musik: Michael Frei, spielt Andreas Jeßing als Glatzen Peer zu Beginn und zwischendurch ganz nebenbei Ziehharmonika, was die spielerische Atmosphäre des Stücks unterstreicht und die Handlung rahmt: Ein hyggeliges Familienstück für die kalte Jahreszeit, das gleichsam über wichtige Aspekte des alltäglichen Zusammenlebens reflektiert. 10.1.2023

 

© Isabel Winarsch