Theater einBLICK

28.06.2023

I’m not crying, you are crying

Katja Hagedorn hat für den hauseigenen Kritikerclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Vorstellung »Fragmente der Zärtlichkeit« besucht.
Fragmente der Zärtlichkeit
Zum Stück

Was soziale Ungerechtigkeit konkret für Individuen bedeutet, erzählt Édouard Louis in seinen Romanen. Am Deutschen Theater Göttingen gelingt die Bühnenadaption zweier seiner Texte: Moritz Franz Beichl verarbeitet Louis’ fiktive Aussprachen mit den Eltern – »Wer hat meinen Vater umgebracht« und »Die Freiheit einer Frau« – zu einem intimen Kammerspiel. Obwohl es Louis’ Worte bleiben, sprechen hier auch die Eltern selbst. Das müssten sie nicht, denn ihnen lässt sich die erlittene Klassengewalt an Haltung und Gestik ablesen: Strukturelle Armut und ihre Konsequenzen zeichnen schwer. Glaubhaft verkörpert werden sie von Jenny Weichert und Marco Matthes, Moritz Schulze gibt den erwachsenen und von seiner Herkunftsfamilie entfremdeten Sohn. Als Kind überzeugt er bis zur Schmerzgrenze.
Erzählt wird, neben dem distanzierten Verhältnis zum Vater, die nicht weniger schwierige Beziehung zur Mutter: Erst die Entfremdung von ihr, beginnend mit seinen Distinktionsbemühungen bei Eintritt ins Gymnasium, später durch chirurgische Eingriffe und Namensänderung, führen zur Wiederannäherung mit ihr. Schulzes besonders klare Aussprache weist subtil auf Louis’ Metamorphose und sozialen Aufstieg durch Bildung hin.
Beichl führt das Arbeiter*innenmilieu nicht vor, aus den Ursprungstexten kondensiert er die Fragmente der Zärtlichkeit, die zwischen den strukturell bedingten Problemen von Armut und Bildungsferne immer wieder durchscheinen. Aufgrund seiner Queerness erfährt Louis Ablehnung und Ausgrenzung, Gewalt und Erniedrigung. Am heftigsten scheint die Ablehnung des Vaters; und dennoch ist es dieser, der seinem Sohn »Titanic« auf VHS zum Geburtstag schenkt – entgegen seiner Drohung, Eddy bekomme nichts, wenn er bei diesem Wunsch bleibe. Die berührendste Szene des Romans wird auf der Bühne übertroffen, als der Vater leise »My Heart Will Go On« von Céline Dion singt, während der Kopf seines Sohnes an seiner Schulter lehnt. Einem dauerhaft liebevollen Verhältnis zu seinem Sohn stehen jedoch patriarchale Überzeugungen entgegen.
Der Bühnenraum wird begrenzt von einem Fadenvorhang, seine Farben finden sich auch in Eddys Pullover wieder (Bühne und Kostüme: Robin Metzer). Die Fäden können als Louis’ Erinnerungen gelesen werden, sie kennzeichnen die Enge und bedrückenden Verhältnisse seiner Herkunft. Der so geschaffene Begegnungsraum wird vielfältig bespielt: Zu Beginn sprechen die Figuren nur durch die Fäden miteinander, im Laufe des Abends bewegen sie sich gemeinsam neben und hinter, zunehmend auch auf der Bühne. Mit seiner Inszenierung zeigt Beichl einmal mehr: Gewalt muss nicht ausgestellt werden, denn die besonders gewaltvollen Szenen sind auch besonders still. Ihre Kraft entwickeln sie in ihren ruhigen Dialogen. 25.6.2023

 

© Lenja Kempf