Theater einBLICK
Jeder*r hat eine eigene Geschichte
Bei moderner Musik, unter anderem wird Abba gespielt, erfolgt der Einlass, wobei der eiserne Vorhang als Bühnenhintergrund mächtig und kalt wirkt. Mit dem Auftritt eines futuristisch gekleideten Menschen, der die Überschreibung des ältesten erhaltene Theaterstückes, »Die Perser« von Aischylos, eröffnet, werden die Zuschauer*innen zum Aufpassen und Lernen aufgefordert. Ein herzzerreißendes Jammern der Zurückgebliebenen des persischen Volkes, welches als weinendes Menschenknäuel vor dem eisernen Vorhang kauert – dramatisch dargestellt von Jenny Weichert, Marco Matthes, Nathalie Thiede, Paul Trempnau, Tara Helena Weiß und Leonard Wilhelm –erregt Empathie und erdrückte Stimmung. Doch Atossa (Andrea Strube), die Mutter von Xerxes, dem Perserkönig, der den Krieg begonnen hat, erscheint mit der Aufforderung: »Pause von der Klagerei«. Sie hat ihre eigenen Vorstellungen, mit dem mutmaßlichen Verlust der persischen Kämpfer umzugehen, von denen die zurückgebliebenen Frauen, Kranken und Kinder schon lange keine Nachricht mehr bekommen haben. Atossa ist lösungsorientiert, sieht die Gunst der Stunde, möchte die Gesellschaft verändern, demokratisch neugestalten und träumt vom Matriarchat. Plötzlich erscheinen nacheinander vier Bot*innen, die jeweils unterschiedliche Versionen vom Verbleib der Erzeuger erzählen. Jeder Mensch hat seine eigene Sichtweise. Hypothesen werden aufgestellt: Sind die Kämpfer in die Falle gegangen, sind sie aus Scham der Niederlage ins Wasser gesprungen, trauten sie sich nicht zurück oder kommen sie in Holzkisten heim? Es wird deutlich, dass die Bot*innen eine Macht der Erzählung haben und Menschen beeinflussen können. Was ist Lüge, was ist Wahrheit, wie ist die Sichtweise? Auch die Heimkehr von Xerxes (Paul Tempnau) wird in verschiedenen Versionen dargestellt. Erkennt Atossa ihren Sohn, wurde er gar von ihr in den Kampf geschickt, ist er feige in den Mutterschoß zurückgekommen, hätte sich Atossa gerne weinend auf den Sarg ihres Sohnes gestürzt, der einen heldenhaften Tod gestorben ist? Den Zuschauer*innen bleibt am Ende nichts anderes übrig, als sich für ihre beste Version zu entscheiden. Dennoch endet diese Inszenierung dramatisch mit dem Morden der machthungrigen Atossa. Diese verschwindet schließlich durch die Tür im eisernen Vorhang. Der Bühnenboden, welcher zwischenzeitlich mit Wasser gefüllt wurde, ist bedeckt mit Leichen. Eine Uraufführung, die wahrlich zum Nachdenken anregt. Branko Janack, der Regie führte, ist die Inszenierung der Uraufführung von »Wir Perser« von Ivana hervorragend gelungen. Bühne und Kostüme (Moira Gillieron) unterstreichen das Geschehen durch Einheitlichkeit der Zurückgebliebenen und Diversität der Bot*innen. Die Idee mit dem Wasser auf der Bühne ist großartig und erweckt beim Publikum fast hautnah Respekt oder Angst vor dem tödlichen Nass. Beeindruckend ist die Leistung der ›verstorbenen‹ Schauspieler*innen, die bis zum Ende leblos im Wasser verharren und sich erst nach dem Abgang von Atossa aus dem Meer erheben. Dieses ist meine Erzählung von der mitreißenden Premiere »Wir Perser«. Ich bin sicher, Sie werden Ihre eigenen Sichtweisen weitergeben, wenn Sie Bot*innen dieser Inszenierung werden und sich selbst von der Qualität des Deutschen Theaters Göttingen überzeugt haben.
