Theater einBLICK

18.01.2024

Keine Hoffnung

Ronja Kirschke hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Vorstellung »GRM. Brainfuck« besucht.
GRM. Brainfuck
Zum Stück

Sibylle Bergs »GRM. Brainfuck« erzählt die Geschichte von den Kindern Don, Karen, Hannah und Peter, die im trostlosen Rochdale im Norden Englands leben. Verbunden werden die Vier durch ihr Außenseiter*innen Dasein und eine Kindheit, die geprägt ist von Gewalt. Von Armut, Vernachlässigung, dem Verlust des sozialen Umfeldes, von Vergewaltigung(en) und Ausbeutung. Der Zusammenhalt der Freund*innen wächst ebenso wie ihre Wut auf die älteren Generationen, die für die katastrophalen Verhältnisse des neuen Jahrtausends verantwortlich sind. Angetrieben von dieser Wut schreiben Don, Karen, Hannah und Peter eine Todesliste, auf der sie Personen festhalten, die ihnen Gewalt angetan haben und verlassen Rochdale, um Vergeltung zu üben. In einer leeren Fabrikhalle in London führen die nun Jugendlichen ein Leben unter dem Radar, ohne Endgeräte und ohne implantierte Chips, die gekoppelt an ein bedingungsloses Grundeinkommen zwecks Überwachung von der Regierung eingeführt worden sind. Die Geschichte der Freund*innen besteht in der Textfassung im Deutschen Theater  Göttingen überwiegend aus Erzählungen, in die vereinzelt Dialoge eingebettet sind. Das Ensemble (Bastian Dulisch, Rebecca Klingenberg, Marco Matthes, Anna Paula Muth, Paul Trempnau, Jenny Weichert) nimmt in wechselnden Rollen die Erzähler*innenposition ein. Trotz oder gerade wegen der teilweise schnellen Wechsel hängen die Zuschauer*innen förmlich an den Lippen der Darsteller*innen. Die Erzählungen sind aufeinander abgestimmt, das Ensemble harmoniert und ergänzt sich.
Die Fassung von Niklas Ritter zeigt den Zuschauer*innen eine dystopische Version unserer Gesellschaft/Welt, die realitätsnaher ist als wir wahrhaben wollen. Die Stimmung des Romans, d.h. die Verzweiflung der Kinder, die Verachtung, die Teile der Bevölkerung erfahren sowie der Egozentrismus/das Arschlochtum der herrschenden Schichten werden ebenso gut transportiert wie die immense Wut, mit der sowohl die vier Jugendlichen als auch die Leser*innen bzw. Zuschauer*innen reagieren. Einen großen Beitrag zu dieser Übertragung leisten das Lichtdesign (Norman Plathe-Narr) und die Musik (Oliver Rath).
Effektvoll ist auch das Bühnenbild (Kerstin Narr und Norman Plathe-Narr) der ersten Hälfte des Stücks. Eine Konstruktion, die zwei Etagen schafft auf der sich oben die Schauspieler*innen in einer Art Metallkäfig aufhalten, während unten vor dem Aufbau Tapetenmotiv mit Neonspritzern eine intime Atmosphäre schafft, in der die Zuschauer*innen Don, Karen, Hannah und Peter kennenlernen und von ihnen in den Bann gezogen werden. Die orangene Neonfarbe findet sich auch im überzeugenden Kostümbild (Kostüme: Ins Burisch) wieder und hebt sich als Kriegsbemalung stark von der ansonsten weiß geschminkten Haut, sowie der in schwarz oder weiß gehaltenen Kleidung und Perücken des Ensembles ab. Im Laufe der ersten Hälfte senkt sich die Bühnenbildkonstruktion, der Käfig wird gesprengt und die Zuschauenden können an dem Leben der werdenden Jugendlichen teilnehmen bis sie aus Rochdale ausbrechen. In der zweiten Hälfte der Inszenierung besteht das Bühnenbild dann aus einem imposanten, schiffswrackähnlichem Gebilde, das sich auf einer Drehbühne langsam um die eigene Achse dreht. Unweigerlich wird man an das nachhaltig beeindruckende Bühnenbild von »Zerstörte Straßen« (Regie: Niklas Ritter, Bühnenbild: Karoline Bierner und Norman Plathe-Narr) aus der Spielzeit 2022/23 erinnert.
Ebenso wie »Zerstörte Straßen« wird in »GRM. Brainfuck« an verschiedenen Stellen sexualisierte Gewalt thematisiert, die bei einigen Zuschauer*innen die Grenze des Aushaltbaren überschreitet. Um gegenseitig mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen wäre es meiner Ansicht nach sehr sinnvoll zu überlegen, ob für diese Inszenierung nicht eine Content Note formuliert werden sollte, damit die Zuschauer*innen sich selbstbestimmt diesen Darstellungen aussetzen und sich auf diese vorbereiten können.
Dennoch. Wer bereit ist sich dem zu stellen sollte das unbedingt tun. »GRM. Brainfuck« ist ein Stück, das einer absolut Nahe geht und unter die Haut fährt. Wie ein Vergrößerungsglas zeigt es (etwas überspitzt) auf, was in unserer Gesellschaft schlecht läuft und wie viel schlimmer es noch werden kann. Es ist die (schwierige) Aufgabe der Zuschauerin nicht in Hoffnungslosigkeit zu verfallen, sondern einen Weg zu finden sich aufzulehnen. Hilfreich ist dabei sicherlich die Wut, die einer bei »GRM. Brainfuck« mitgegeben wird.  15.1.2024

 

© Thomas Aurin