Theater einBLICK

07.02.2023

Laut, grotesk, schrill – und dann wird es still.

Katja Hellmys hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Hedwig and the Angry Inch« besucht.
Hedwig and the Angry Inch
Zum Stück

Mit einem krachenden Auftakt beginnt in »Hedwig and the Angry Inch« die Lebensgeschichte von Hedwig, die mit Volker Muthmann in der Hauptrolle von Moritz Franz Beichl und Sarah Kurze eindrucksvoll inszeniert wurde. Mitten in dem von Thomas Rump entworfenen, glamourösen Bühnenbild, umgeben von gepackten Koffern, beginnt Hedwig mit der Geschichte ihres Lebens, deren Kapitel in diversen Songs verpackt wird.
Der erste Song führt zurück zum Schauplatz Ostberlin, das einst Teil eines Ganzen war, das immer mehr in zwei Welten zerfiel. Die Mauer ist für Hedwig das Symbol für diese Spaltung wie auch für die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Und genau hier beginnt das neue Leben von Hansel, bevor er zu Hedwig wurde. Beim Sonnenbaden trifft er auf einen amerikanischen GI, mit dem er eine Beziehung eingeht, die schließlich in eine Heirat münden soll: Hansels Chance auf ein anderes Leben. Gäbe es nicht ein Problem: Hansel ist ein Mann.
Die Fluchtmöglichkeit nutzend, entscheidet sich Hedwig für eine Operation. Und so wird aus Hansel Hedwig, oder doch nicht, denn ein Teil des alten Geschlechts blieb zurück: Ein Inch lang.
Da steht Hedwig nun auf der Bühne, in aufwendigen, von Astrid Klein entworfenen Kostümen; mal mit Paillettenkleid, Federboa oder auch Lederjacke, weder der einen noch der anderen geschlechtlichen Identität zugehörig. In diesem Szenario stellt sich die Frage nach dem Selbst, nach der eigenen Identität. Eine Frage, die in unterschiedlichen Songs gepunkt, gejazzt und gerockt wird.
Begleitet wird Hedwig von ihrer Band, unter der Leitung von Michael Frei, und dem Ehemann Yitzhak, der gerne zur Drag wurde, bevor es Hedwig ihm verbot. Yitzhak steht an Hedwigs Seite als treuer Begleiter, kündigt sie an, versorgt die Performerin während ihrer Shows und schützt Hedwig, als sie sich nicht länger hinter ihre Maske verstecken kann. Zu tief sitzt der Schmerz der Ablehnung, der sich kontinuierlich durch Hedwigs Leben zog. Nun steht sie mit Yitzhak auf der Bühne, beleidigt, erniedrigt ihn bisweilen, tut es denen gleich, deren Ablehnung sich einst auf sie selbst bezog. Die Ablehnung, die zu einer Selbstverachtung führte und sich nun in den musikalischen Pausen in der Demütigung des Ehemanns äußert.
Bis zu dem einen Moment, als die Stille eintritt, in der Yitzhak übernimmt, als Hedwig die Bühne verlässt. Es ist der Moment, als Hedwig beschreibt, wie ihr Geliebter sie nicht berührt kann, weil ein Inch zwischen ihnen steht. In diesem Moment füllt sich der Raum mit der Einsicht in die Demütigungen und der Verlust der Liebe. Es ist aber auch der Moment, in dem Hedwig die Maske fallen lässt, sich von der Bühne zurückzieht, um wiederzukehren, sich mit gehobenem Haupt und geschwollener Brust zum Publikum wendet, um ein letztes Mal über die Bühne zu toben. Diesmal nicht mehr allein, sondern an der Seite mit ihrem Mann Yitzhak, der nun mit seinem Alter Ego, als Drag auf die Bühne tritt. Es ist das fulminante Ende einer Show, in der Volker Muthmann als Hedwig alles gibt und in dem gelungenen Zusammenspiel mit Tara Helena Weiß alias Yitzhak, diesem schließlich die Anerkennung zukommen lässt, die Hedwig selbst verwehrt wurde.
»Hedwig and the Angry Inch« ist ein lautes, glitzerndes Spektakel in dessen ruhigen Zwischenräumen der Schmerz zu hören ist, der sich als Sehnsucht nach Zuneigung an die Eltern, den kurzfristigen Ehemann, den Geliebten richtete. In diesen Zwischenräumen steht das Stück für mehr als eine glitzernde Show – in diesen stillen Räumen steht ein Mensch, der ein Gesicht von sich sucht, das er lieben kann. 5.2.2023

 

© Thomas Müller