Theater einBLICK

05.10.2023

Lustwandeln im Stillstand

Lisa Eisenkrätzer hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Der Kirschgarten« besucht.
Der Kirschgarten
Zum Stück

Am Samstag, den 23.9.2023, feierte im Deutschen Theater die Komödie »Der Kirschgarten« von Anton Tschechow in der Regie von Erich Sidler seine Premiere. In »Der Kirschgarten« wird die Geschichte der Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Rebecca Klingenberg) erzählt, die nach fünf Jahren in Paris mit ihrer Tochter Anja (Anna Paula Muth) und ihrem Bruder Gajew (Gerd Zinck) in die russische Provinz zurückkehrt. Dort ist auf dem Gutshof und dem angrenzenden Kirschgarten unter dem Regiment der Adoptivtochter Warja (Tara Helena Weiß) eine friedliche Vergangenheit scheinbar unverändert konserviert worden – doch der Schein trügt: Der Gutshof leidet unter dem ausschweifenden Lebenswandel der Ranjewskaja, ist hoch verschuldet und steht kurz vor der Zwangsversteigerung.
Unter dem Schatten des drohenden Bankrotts beginnen die Gutsbesitzer*innen einen starren Tanz aufzuführen, den sie ihr Leben nennen: Lustwandeln im Garten, das nostalgische Schwelgen in einer glücklicheren Vergangenheit und das Führen leerer Unterhaltungen in blumigen Worthülsen. Auch die Dienerschaft kann sich diesem Rhythmus nicht entziehen und verweilt in starrer Bewunderung. Es wird viel geredet, doch wenig gesagt, und schon gar nicht kommt es zu einer tatsächlichen Unterhaltung. Wenn der Freund der Familie Lopachin (Paul Trempnau) eindrücklich und glasklar die Problemlage analysiert und zugleich eine Lösung aus der Misere bietet, scheinen die Gutsherr*innen wie entrückt, unfähig die Realität zu berühren, und das Thema wird schnell gewechselt.
Dornröschen heißt tatsächlich Ranjewskaja und hat sich nicht an einer Spindel, sondern an einer Kirschblüte gestochen. Nur, dass während des 100-jährigen Schlafes alle Prinzen entlassen wurden und das Dornröschen seitdem im Wachschlaf Kreise um sich selbst dreht. Gerne möchte man es schütteln und ihm zurufen »Wach auf!«, aber wie so oft scheint es einfacher, eine fatale, aber gewohnten Routine beizubehalten als einen Schritt auf einem verheißungsvollen, aber unbekannten Weg zu gehen. Es wird deutlich, welche Mühsal es für Menschen bedeuten kann, eine Brücke vom Um-sich-selbst-Kreisen zur wirklichen Reflektion zu schlagen, in einer wirklichen Verbindung zu einem anderen Menschen sich selbst zu offenbaren oder Verantwortung für den eigenen Lebensweg zu übernehmen. Die befreiende und belohnende Kehrseite dieser vermeintlichen Mühsale deutet Tschechow nur an, spart aber einen wirklichen Gegenentwurf aus.
Das Komische, das in diesem Tragischen liegt, gelingt in den 120 Minuten Spielzeit beeindruckend durch das Schauspieler*innen-Ensemble und seinem Gespür für das richtige Timing. Die bissigen, zum Teil bösen Dialoge stehen im scharfen Kontrast zu der perfekten Kirschblüten-Kulisse und es bedarf wohl eines besonderen Talents, jede einzelne Interaktion so oberflächlich, flüchtig und ich-bezogen zu halten. Ganz deutlich spürbar werden die unbenennbare Sehnsucht nach dem, was nie war, sowie die diffusen Vorstellungen vom Glück, denen die Figuren anhängen. Dabei bietet das minimalistische, aber wunderschön blütenprächtige Bühnenbild (Bühne Jörg Kiefel, Video Jonas Link) den Darsteller*innen den perfekten Entfaltungsraum, um die zwischenmenschlichen Beziehungen (bzw. deren Fehlen) in den Fokus zu rücken. Das stimmungsvolle Kostümbild (Elena Gaus) und der Wechsel zwischen den prächtigen Gewändern der feinen Herrschaften zeigen atmosphärisch die Szenenwechsel an und stehen im Gegensatz zu den gleichbleibenden Kostümen derer, denen nicht die Gnade der hohen Geburt zuteil wurde. Der älteste Diener des Hauses, Firs (Johannes Granzer), – zu seinen Lebzeiten aus der Leibeigenschaft befreit – ist dennoch so Teil des Inventars, so verdinglicht, dass sein Kirschblütenanzug sich überhaupt nicht von der Umgebung abhebt. Doch schließlich findet ausgerechnet er die passenden Worte, um die Geschehnisse im Kirschgarten zusammenzufassen: »Das Leben ist vorbeigegangen, als ob es gar nicht dagewesen wäre.« 4.10.2023

 

© Klaus Herrmann