Theater einBLICK

23.03.2023

Sind wir nicht alle ein bisschen Täter*in

Eugen Dahn hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Mitwisser« besucht.
Mitwisser
Zum Stück

Die Aufführung von »Mitwisser« von Enis Maci unter der Regie von Selina Girschweiler beginnt bereits mit dem Eintreten ins dt.2, das durch grüne Raster, nicht nur auf der Bühne, sondern auch in den Zuschauer*innenreihen, angestrahlt ist. Der Zettel mit dem QR-Code, der zu einem der sechs Videos, die bereits auf den Tablets auf der Bühne in Dauerschleife laufen und auf die anstehenden Geschichten Bezug nehmen, verlinkt ist, lässt dich einen unmittelbaren Teil des Ganzen werden. Ein Teil des Erlebnisraumes. Ein Teil des Ökosystems, das unsere Gesellschaft abbildet, also eine Landkarte ist, wobei die Raster und die im Verlauf der Aufführung angezeigten Koordinaten der Orte das Gefühl der Landkarte verstärken. Dabei wird man im Vorfeld darauf hingewiesen, dass eine Landkarte nur ›ein Bild‹ und nicht frei von Verzerrungen oder Vereinfachungen ist.
Als Herzstück der Aufführung werden fünf Geschichten, fünf Ökosysteme abgebildet, in denen ein Verbrechen oder Gewalttaten stattfanden. Drei von ihnen beinhalten einzelne Täter*innen. Doch die Tat an sich, egal wie grausam oder unmenschlich sie auch ist, steht hier nicht im Mittelpunkt, auch wenn für die jeweilige Situation berechtigte Fragen aufgeworfen werden. Ebenfalls werden der Täter oder die Täterin eher wie in einem Strafprozess sachlich, technisch dargestellt und somit ein Stück ihrer Menschlichkeit beraubt. Wenig Emotionen, außer im Falle der fremdenfeindlichen »Fußballfans«, bei denen die Emotion Hass grundlegend für das Verbrechen ist und am eigenen Leib erfahrbar wird als sie ihre Parolen in den Erfahrungsraum brüllen. Zwischenzeitlich werden auch andere Gräueltaten angeschnitten, jedoch ohne einen anderen als imaginativen Raum dafür zu nutzen.
Die einzelnen Ökosysteme werden mit Hilfe einer Gruppe von fünf »Individuen« (Gaby Dey, Daniel Mühe, Katharina Pittelkow, Nathalie Thiede und Gerd Zinck) punktuell dargestellt, die sowohl die Täter*innen als auch das Umfeld, die Mitwissenden, aus dem die Erstgenannten stammen abbilden. Dieses verdeutlicht die enge Verbindung zwischen der ausführenden Person und denen, in deren Umfeld sie lebte und deren Teil sie gewesen und immer noch ist, auch wenn diese Verbindung von den mitwissenden Personen vehement negiert wird. Die Mitwissenden wirken in ihrer Erscheinung als eine geschlossene Gruppe: »glatte« Frisuren, ähnliche Kleidung, »wir« statt »ich« und unisono sprechend, die sich ungeschickt von der handelnden Person abzugrenzen versucht. Dabei werden verschiedene Strategien offenbart: Verdrängung, Nicht-Wissen-Wollen, Aufrechnung gegen andere Gräueltaten, Rationalisierungen, Opfer-Täter-Umkehrung, konformistisches Denken und Handeln (einheitliche Farbe Grün des genutzten Inventars als dessen Sympbol), fehlende strafrechtliche Relevanz für Mitwissende, Doppelstandards, Gruppenzwang sowie Verantwortungsdiffusion und Enthemmung in der Gruppe. Die Gruppe, die Gesellschaft, das Ökosystem versucht sich selbst zu schützen, wobei nicht nach Ursachen der Verfehlungen gefragt wird, sondern die Einteilung in »wir« und »die Anderen« erfolgt, wobei die Anderen, mit Sartres Worten, »die Hölle« sind. Und dass, es nicht erst in Weimar in der NS-Zeit anfing, wird eine Parallele zum antiken Griechenland gezogen, was mit den typischen Säulen auf der Bühne untermalt wird. Dabei wird auch die Frage nach der Vernunft und dem freien Willen angesprochen.
Den Zuschauenden werden somit viele Impulse zum Nachdenken gegeben. Solche wie: Ist das Gezeigte nicht doch gerade das Vernünftigste, was man tun kann, um in einem Ökosystem zu überleben? Kann sich jemand freiwillig gegen seine In-Group entscheiden und sich in die Gefahr begeben nicht »normal« zu sein und aus diesem Grund, zumindest als öffentliche Person, zu sterben? Heißt es nicht umsonst »Mit den Wölfen heulen«? Wie anders sind wir heute in unseren Ökosystem? Wer traut sich gegen die herrschende Meinung etwas (öffentlich) zu sagen? Worüber sprechen wir in unserem Alltag neben unserem Smalltalk ähnlich dem damals in Weimar? Ausbeutung in den »armen Ländern« für unseren Wohlstand, durch uns mitausgelöste Klimakatastrophe oder unsere Unterstützung des Tötens durch Waffenlieferungen? Es braucht schon einen guten Kompass, der nach erstrebenswerten Werten (Humanismus? Demokratie? Gerechtigkeit? Gleichbehandlung?) ausgerichtet ist und uns auf der Landkarte unserer Gesellschaft hoffentlich zu unserem Ziel leiten kann.
Die schauspielerische Leistung ist wie gewohnt auf dem höchsten Niveau: das häufige kantenfreie Wechseln der Rollen, das synchrone Sprechen (auch zu fünft), die drei Einzeltäter*innen wirken trotz der Vernachlässigung des emotionalen Fokus plastisch! Die Bühnengestaltung (Mara Zechendorff) unterstützt sehr subtil und doch eindrucksvoll die Handlung. Man bekommt das Gefühl von einer Szene in die nächste übergangslos geworfen zu werden. Es bleibt wenig Zeit sich mit den gegebenen Impulsen auseinanderzusetzen und emotional darauf einzugehen, wobei die Taten an sich mehr als abscheulich sind. Ähnlich den schlechten Nachrichten, die tagtäglich auf uns einprasseln und uns abstumpfen lassen können. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb das Gezeigte wenig emotional wirkt und auch der Grund, weshalb wir alle als Mitwissende wenig gegen die Missstände unternehmen. Doch vielleicht ist es eben diese Überfrachtung oder Verdichtung, als Zeichen der Allgegenwärtigkeit des Gezeigten, die uns aus der Trägheit der eingefahrenen Wege herauszuziehen vermag und uns im Gegensatz zu den Nachrichten, da nicht alltäglich, zum Nachdenken zwingt.
Das Nachdenken über das gleiche Mitwissen und Wegschauen auf der ganzen Welt, was nicht nur mit den unterschiedlichen Orten der Geschehnisse, sondern auch durch das Vorlesen der Internetkommentare symbolisiert wird. Der Raum, das Ökosystem hat sich in den vergangenen Jahren durch das Internet deutlich erweitert, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Es gibt viel mehr Mitwissende. Doch ändert es etwas an den zu Grunde liegenden Mechanismen? Oder verstärkt es sie doch nur?
Weil man nicht bereit oder gewollt ist, sich mit den Missständen zu beschäftigen, versucht man sich lieber Ablenkung oder Verdrängung mit nicht-lustigen und teils brutalen Katzenvideos (die sechste Einspielung auf einem Tablet auf der Bühne) zu verschaffen. Oder wie es in einem Kommentar zum Schluss heißt »Do some funny things!« 22.3.2023

 

 

© Lenja Kempf