Theater einBLICK

27.10.2022

Was bleibt?

Antje Oeler-Gremmler hat für den hauseigenen Kritikerclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Jeeps« besucht.

Licht aus – Stück aus – Dunkelheit – ein Moment der Stille – Betroffenheit – Ratlosigkeit – dann erst Applaus
»Jeeps« erinnert daran, wie gering z. B. der Bildungssatz und Verpflegungssatz für Hartz IV-Empfänger*innen sind und dass Pfandgeld von gesammelten Flaschen unter anderem vom Hartz IV-Satz abgezogen wird, da es sich um ein zusätzliches Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit handelt. »Jeeps« zeigt auf, wie ungerecht die Verteilung von Besitz und Gütern in Deutschland ist – jedes fünfte Kind lebt in Armut – und wie diese Ungerechtigkeit und die daraus resultierenden sozialen Schichtzugehörigkeiten, insbesondere durch das deutsche Erbrecht, aufrechterhalten und verstärkt werden. »Jeeps« führt diese Tatsachen ad absurdum, indem gesetzt wird, dass alle Erbschaften in Deutschland konfisziert und neu verlost werden. Es können Anträge auf Lose beim Jobcenter gestellt werden. Mit einer guten Rechtschreibleistung steigen die Chancen auf einen genehmigten Antrag und ein Los. Wer Pech hat, gewinnt Schulden. »Jeeps« illustriert das Sprichwort, dass die Gutheit ein Stück von der Dummheit ist: So führen Mit-Menschlichkeit, persönliches Engagement und Hilfsbereitschaft am Beispiel eines empathischen Mitarbeiters des Jobcenters zu Resignation, Zynismus, Verschwendung persönlicher Ressourcen und zum Scheitern einer Ehe. »Jeeps« führt uns vor Augen, wie Menschen, die durch ein System entmachtet und entwürdigt werden, nach Macht streben und zur Gewalt greifen. An die Macht kommen demzufolge Menschen, denen es um Machtsicherung und nicht um gesellschaftliche Teilhabe, Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Natur oder Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse geht.
Zurück zum Anfang des Stücks
Herzlich willkommen bei »Jeeps« – Umverteilungslotterie – Vorhang auf – das Stück beginnt mit einer unerwarteten Selbsterfahrung. Es werden zwei Sitzplatzlose gezogen. Die ausgelosten Personen erheben sich und werden gebeten, ihre Sitzplätze zu tauschen. Dritte Reihe Parkett und dritter Rang … was für ein Zufall … Kollektive Verunsicherung, An-Spannung und Stille breiteten sich körperlich spürbar – wie Nebel – im Zuschauer*innenraum aus. »Meinen die das ernst? Haben die keine Angst, dass Zuschauer*innen nie wieder kommen?«
Das Spiel im Spiel wird beendet, alles bleibt, wie es war. Erleichterung in allen Reihen. Nun kann das Theater auf der Bühne bleiben und mit dem unterhaltsamen Zuschauen begonnen werden.
Was bleibt?
Das Wissen um soziale Ungerechtigkeit in Deutschland – und auch nach langer Diskussion – betroffene Ratlosigkeit und viele offene Fragen in Bezug auf sinnvolle Handlungsmöglichkeiten auf einem Weg hin zu mehr Chancengleichheit, Teilhabe und einer gerechteren Verteilung von Gütern und Besitz. »Jeeps« lädt dazu sein, sich diesen Fragen und Problemen zu stellen, seinen Alltag zu überprüfen und Verhaltensweisen in Bezug auf Politik und Gemeinschaft zu hinterfragen.

Antje Oeler-Gremmler