06.01.2022

Und die Geister tropfen

Katja Hagedorn hat für den hauseigenen Kritikerclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, die Premiere »Der Schimmelreiter« besucht.
Der Schimmelreiter
Zum Stück

Daniel Foersters Umsetzung von Storms Schimmelreiter besticht durch außerordentliche Atmosphäre. Erheblich trägt dazu Mariam Haas’ äußerst ästhetisches Kostüm- und Bühnenbild bei. Zusammen mit Sounddesign, Sprache und Spiel ergeben sie eine starke Inszenierung.

 

Das Tosen des Meeres ist gleich bei Betreten des dt.2 zu hören, vielmehr zu spüren. Die Zuschauerin fühlt sich direkt dem rauen Nordseeklima ausgesetzt: Unruhige Wellen werden auf das Bühnenbild mit Rampe projiziert, die Spieler*innen mimen Tiergeräusche — Möwe, Kuh, Schaf — es fühlt sich an, als wäre man mit ihnen auf dem Deich. Über allem hängt ein Schriftzug aus Eisblöcken: GEISTER.

 

Das Geistermotiv findet sich auch im Kostümbild wieder: Die Spieler*innen tragen weiße Perücken und bleiche Gesichter zur Schau, das weiße Make-up weicht später der durch die Rampe des Bühnenbildes auferlegten Anstrengung einer leichten Röte. Die Kostüme des stimmigen Ensembles muten weniger historisch als modern-funktional an, Elke und Wienke tragen beispielsweise Kleider aus hellblauem Ölzeug. Nach ihrer Hochzeit mit Hauke Haien tauscht Elke (vormals Volkerts) ihre stylischen High Heels gegen vermutlich praktischere Gummistiefel. Symbolisch für die Partner*innenschaft auf Augenhöhe, die sie führen, denn Hauke trägt auch welche.

 

Die moderne Umsetzung des klassischen Schulstoffs schließt an aktuelle Rezeptionsgewohnheiten an. Obwohl Storms Sprache durchaus erkennbar bleibt, wirkt das Stück nicht verstaubt, im Gegenteil: Durch popkulturelle Referenzen verschiedener Jahrzehnte (Kinski-Ausbrüche, Jane Fonda-mäßiges Eisboßeln, »Herr der Ringe«-Anspielungen) wirkt der Text lebensnah. So wird auch der Leichenschmaus anlässlich des Todes von Elkes Vater an den Strand verlegt: Elke (die in dieser Szene an die Frau aus der ikonischen Raffaelo-Werbung erinnert) bringt den sonnenbadenden Dorfbewohner*innen Wassereis und eröffnet ihnen ihre Verlobung mit Hauke. Die Zuschauerin fühlt sich durch diese vermeintlichen Kleinigkeiten abgeholt.

 

Überhaupt die Figur der Elke: Sie ist in charge. Sie hat agency. Sie weiß, was sie will. Sie will Hauke. Und sie will den reichsten Mann des Dorfes heiraten. So schenkt sie Hauke ihr kurz zuvor geerbtes Vermögen und heiratet ihn. Diese Elke wird bei Storm angedeutet, Nathalie Thiede aber spielt sie überzeugend und gewissermaßen als role model. Denn sie wird nicht zu der sprichwörtlichen Frau, die hinter einem erfolgreichen Mann steht; sie steht an seiner Seite und sie sind zusammen erfolgreich. In einer anderen Welt hätte es für sie wahrscheinlich überhaupt keinen Hauke gebraucht, da sie selbst Deichgräfin geworden wäre.

 

Auch durch den häufigen Wechsel der Spieler*innen in verschiedene Rollen wird die Aufmerksamkeit der Zuschauerin aufrecht erhalten, denn der Übergang ist dabei immer fließend. Besonders elegant gelingt Gerd Zinck die Transformation von Trien Jans, als diese im Streit mit Hauke plötzlich zu seinem Vater wird. Und obwohl die doppelte Rahmung von Storms Novelle teilweise durch eine neu geschaffene Erzähler*inneninstanz aufgegriffen wird, gleiten alle Spieler*innen mal in die Erzähler*innenrolle. Und nicht nur da glänzt die Gästin im Ensemble, Bettina Grahs, mit ihrer erstaunlichen Bandbreite: Als Erzählerin ist sie mitreißend, als Schimmel überzeugend, als Wienke rührend. Lukas Beeler überzeugt sowohl als junger ambitionierter, und später auch als älterer, desillusionierter Hauke. Gabriel von Berlepsch gibt den Widersacher Haukes, Ole Peters, grandios mit der ihm eigenen üblichen Intensität.

 

Schließlich nimmt das Schicksal seinen Lauf und es kommt zur völligen Eskalation: Es wird sehr laut: Geschrei, Wind, Getrampel. Die Dorfbewohner*innen opfern Haukes Lebenswerk, den Deich, Hauke protestiert. Kurz darauf: Die Ruhe im Auge des Sturms, Hauke monologisiert. Schön ist das alles, und grausig. Denn die Zuschauerin sieht den unausweichlichen Untergang der Figuren nicht, stattdessen sitzen Hauke und Elke, beide barfuß, mutlos an die Schultern der Erzählerin — oder ist es ihre Tochter Wienke? — gelehnt. Der Horror der bevorstehenden Klimakatastrophe wird in dieser Szene angedeutet: Die beiden blicken hoffnungslos auf ihr unabwendbares Ende.

 

Lesen kann man sie hier als Vertreter*innen jüngerer Generationen, als ausgebrannte Fridays For Future-Aktivist*innen. Der GEISTER-Schriftzug dient dem Stück so gewissermaßen als Überschrift, die Buchstaben tropfen so vor sich hin. Je weiter der Abend fortschreitet, desto schiefer hängen sie in ihren Aufhängungen, teilweise fallen sie herunter. Die übliche Lesart der Novelle als Kampf von Aufklärung gegen Aberglaube wird so in den aktuellen Kontext gesetzt: Obwohl Wissenschaftler*innen seit Jahrzehnten vor dem menschengemachten Klimawandel und seinen Folgen warnen, stellt die Politik nach wie vor Wirtschaftsinteressen vor Klimaschutz — während die GEISTER weiter vor sich hin tropfen. Sie künden von der Unausweichlichkeit der Naturgewalt und bevorstehenden Katastrophen. »Der Schimmelreiter« lässt die Zuschauerin mit Elke und Hauke hoffnungslos zurück — aber wenigstens haben ›wir‹ bis zum Untergang eine gute Zeit.

 

Katja Hagedorn